In Hongkong geht es gerade mächtig zur Sache. Welche Forderungen habt ihr und was wollt ihr eigentlich bewegen?
Sunny: Ich war mir der Ungerechtigkeit im politischen System Hongkongs schon immer bewusst. Ich nehme teil, weil ich will, dass wir 2017 ein allgemeines Wahlrecht sowohl für die Wahl des Chief Executive als auch des Legislativ-Rats bekommen.
Michael: Zu betonen ist, dass wir für ein echtes Wahlrecht im Jahr 2017 kämpfen. Der Ständige Ausschuss des Nationalen Volkskongresses hat entschieden, dass wir das allgemeine Wahlrecht unter der Bedingung bekommen, dass die Kandidaten im Voraus von einem Nominierungs-Ausschuss ausgewählt werden, der weitgehend von China kontrolliert wird. Das ist keine Demokratie, sondern eine Täuschung!
In den Medien sieht man vor allem junge Menschen auf der Straße, die derzeitigen Proteste begannen mit einem Vorlesungs-Boykott der Studenten. Wie muss man sich eure Teilnahme vorstellen: Geht ihr allein auf die Straße, oder zusammen mit Freunden? Wie ist die Situation nachts?
Mit Smartphones den Hongkonger Nachthimmel
erleuchten
Michael: Manchmal gehe ich mit Freunden, manchmal alleine. Die Leute kehren heim, wenn die Müdigkeit sie übermannt, aber eine Menge bleiben auch über Nacht.
Sunny: Mitternacht ist die zweitriskanteste Zeit auf der Straße. Da gehen die meisten Leuten heim. Noch weniger sind zwischen 6:30 und 11 Uhr da. Die Nachtschicht will dann zum Duschen nach Hause, aber es gibt niemanden, der übernimmt. Würde die Polizei uns auseinander treiben wollen, wäre es morgens am einfachsten.
Michael: Deswegen bleibe oft über Nacht, auch wenn ich zwischendurch eine Pause brauche. Wir sind immer sehr wachsam, dass die Polizei nicht eingreift, während wir schlafen oder gerade nicht aufpassen. Wir haben Barrikaden aufgebaut, um Extrazeit zum Fliehen zu haben, wenn etwas passiert. Und wir haben Wächter, die uns zur Not warnen. Man kann nie wachsam genug sein.
Wie ist die Stimmung auf der Straße?
China und Hongkong
Hongkong gehört bekanntlich zu China – aber das erst seit 1997. Zuvor war es britische Kronkolonie. Nach der Übergabe musste sich Hongkong dem politischen System Chinas unterwerfen, d.h. eine Einparteienherrschaft unter kommunistischer Auslegung. Im Vergleich zum Rest Chinas hat Hongkong bis heute eine Sonderrolle, insbesondere in Sachen freier Marktwirtschaft und dem Recht auf Demonstrationen.
Michael: Manche Leute bieten Vorträge über die unterschiedliche Facetten von Demokratie an: Orwell, Totalitarismus, Menschenrechte oder die Hongkonger Einkommensungleichheit – alles, was irgendwie mit Demokratie verbunden ist, kann diskutiert werden.
Sunny: Hongkonger sind wirklich nett. Die meisten Leute wollen wirklich das allgemeine Wahlrecht erkämpfen und tun alles, um der Bewegung helfen. Immer mehr Geschäfte rund um die betroffenen Gebiete bieten Duschen, Rabatte und Stromversorgung an. Lieferungen werden per Menschenkette verteilt.
Dawn: Jeder bietet immer freiwillig seine Hilfe an. Manchmal ruft einfach jemand in die Menge, man bräuchte Ersthelfer, Träger oder Kartenmaler. Letzteres habe ich auch eine Weile gemacht; Karten für Notausgänge, U-Bahn-Stationen, die Lage der Barrikaden und Toiletten malen. Es gibt kein zentral organisiertes System, aber die Atmosphäre ist von Praktikabilität und gesundem Menschenverstand geprägt.
Dawn, du hast auch einem der Sanitäter-Stände geholfen. Wie muss man sich das vorstellen?
Dawn: Das ist überall unterschiedlich organisiert. Die Bestände werden von Bürgern gespendet. Geld können wir nicht annehmen, deshalb bitten wir die Leute, uns gleich das Sanitätsmaterial zu kaufen. Seit der Tränengas-Angriffe hat es keine wirklichen Verletzten mehr gegeben, aber wir bleiben als Reaktions-Team, falls noch etwas passiert. Medizinstudenten und Sanitäter sind in kleinen Teams verstreut, um sich im Ernstfall Verletzte zu schnappen und zur Seite zu bringen.
Wie stehen eure Eltern dazu, haben sie nicht Angst um euch? Und was hält die ältere Generation in Hongkong überhaupt von den Protesten?
Die Stimme des Volkes soll nicht überhört werden.
Michael: Es stimmt, dass die Bewegung vor allem von jüngeren Menschen getragen wird, aber einige Ältere sind auch beteiligt. Vielleicht liegt es daran, dass Jüngere fitter sind und Kälte und Schlafentzug besser aushalten können. Und sie neigen dazu, politisch aktiver zu sein und sich mehr Sorgen um ihre Zukunft zu machen.
Marcus: Meine Eltern haben nicht viel gesagt – nur, dass ich auf mich aufpassen soll. Ich denke, das ist die größte Unterstützung, die sie mir geben können, weil sie eher regierungsnah sind.
Wie geht ihr selbst mit Ängsten und Gefahren um, z. B. vor der Polizei?
Dawn: Ich bin mir bewusst, dass ich mich plötzlich in der Mitte der Zusammenstöße befinden könnte. Aber das ist ein Risiko, dass ich bereit bin, einzugehen – nicht zu vergessen, dass wir alle ganz gut mit Schutzbrillen, Gesichtsschutz und Regenschirmen ausgestattet sind!
Marcus: Ich habe auf jeden Fall Angst. Tränengas und Pfefferspray sind unglaublich schmerzhaft, besonders Pfefferspray. Ich hoffe einfach nur sehr, dass die Polizei nicht anfangen wird, zu schießen, um die Menge auseinander zu treiben, sollte die Situation wirklich kippen.
Welche Funktion spielen die neue Medien und sozialen Netzwerke, wie Firechat oder WhatsApp?
Michael: Sie sind entscheidend für diese Bewegung. Sie zirkulieren neue Ideen, unterstützen die Koordination, stärken das lokale und internationale Bewusstsein und helfen, Gerüchte zu entlarven – obwohl sie die auch manchmal anheizen. Firechat wurde nur verwendet, als die Polizei beschloss, die gesamte mobile Kommunikation rund um das Epizentrum des Protests abzuschalten. Normalerweise genügen WhatsApp und Facebook.
Die Welt ist überrascht ob der Friedlichkeit der Proteste und hat es die “Höflichste Revolution aller Zeiten genannt”.
Die Regenschirme sind zu einem Erkennungssymbol
in Hongkong geworden.
Sunny: Hongkong ist eine sehr zivilisierte Gesellschaft. Ich fühle mich, als wäre dieser ganze Ort eine Utopie, wo alles sich umeinander kümmern und wir freie Verpflegung und Material bekommen. Trotzdem fürchte, dass sich das in kurzer Zeit drastisch ändern könnte. Wir stehen an einer Kreuzung, wo alles plötzlich schief gehen kann. Wenn die Situation als "Aufruhr" bezeichnet wird, könnte die Chinesische Armee eingreifen. Ich weiß, dass einige Leute Taschen mit Steinen und sogar Metallstangen in der umliegenden Gegend gefunden haben. Ein Journalist hat mir erzählt, dass einige Pro-Regierungs-Organisationen Gangstern Geld zahlen, um Gewalt zu provozieren. Wenn Gewalt ausbricht und sich zuspitzt, könnte die Regierung in der Tat hart gegen die Veranstaltung vorgehen.
Marcus: Ich glaube aber, dass es unwahrscheinlich ist, dass China übernimmt. Die Regenschirm-Bewegung hat weltweit Schlagzeilen gemacht. Jede Bewegung der Kommunistischen Partei wird beobachtet. Die Roten Armee zu mobilisieren wäre für China ein großes diplomatisches Missgeschick.
Was glaubt ihr, wo diese Proteste hinführen werden?
Michael: Schwer zu sagen. Der Protest inspiriert die Menschen, verbreitet die Bedeutung von freien und fairen Wahlen. Menschen, die ursprünglich politisch apathisch waren, beginnen, die Unzulänglichkeiten des derzeitigen Systems zu verstehen - und vor allem, wie die Regierung sie täuscht, damit sie nicht im besten Interesse der Bürger handeln muss. Allerdings gibt es immer Menschen, die bereit sind, ihre Freiheit für kurzfristige wirtschaftliche Sicherheit aufzugeben.
Marcus: Die friedliche und zivilisierte Art der Demonstranten bewegt mich schon seit einigen Tagen. Abgesehen davon, dass sie unbewaffnet sind, glaube ich, dass es nicht viele Orte auf der Welt gibt, wo die Menschen alle bereit sind, ihren Müll mitzunehmen und auf der Straße zu trennen. Ich mache mir aber Sorgen um die zukünftige Entwicklung der Bewegung, vor allem in Hinsicht auf die Ausdauer und Mentalität der Demonstranten. Die Menschen müssen irgendwann wieder zur Arbeit und zum Unterricht gehen. Immer mehr Menschen haben das Gefühl, dass es nichts bringt, weiterzumachen, weil sie keine Ergebnisse erzielen. Wenn die Zahl der Demonstranten sich aber nach und nach verringert, haben sie bald weniger Verhandlungsmasse, was potenziell die ganze Bewegung untergräbt.
Sunny: Letztlich wurden auch unser Fokus, unsere Ziele verwischt. Die meisten Menschen fordern den Rücktritt von CY Leung (Anm. d. Red.: Leung ist der Regierungschef von Hongkong), aber das ist nicht unser oberstes Ziel, sondern eben das allgemeine Wahlrecht. Es ist wichtig, dass das hervor gehoben wird. Es gibt auch keinen Konsens darüber, wie wir reagieren, wenn einige unserer Anforderungen teilweise erfüllt werden, zum Beispiel wenn Leung zurück tritt. Es ist unabdingbar, dass die Menschen ihre Forderungen wieder schärfen und die gesamte politische Bewegung nicht in einem Karneval endet. Aber man muss immer daran denken: Die Situation kann nur mit und durch die Bürger von Hongkong gelöst werden, und vor allem denjenigen, die Macht haben.
Interview: Lara Schech
Fotos: © Michelle Kwok