Ich will bei unserem Gespräch von Anfang an alles richtig machen daher würde ich zum Einstieg gerne wissen, welche Bezeichnung eigentlich korrekt ist: Mensch mit Behinderung, behinderter Mensch oder etwas ganz anderes?
Ich selbst sehe das nicht so eng, aber ich weiß, dass in der Community Debatten dazu geführt werden, welche der beiden Formulierungen besser ist. Politisch korrekt heißt es behinderter Mensch, weil es offen lässt, ob jemand behindert ist oder durch seine Umwelt behindert wird. Andere Bezeichnungen wie „anders begabt“, „herausgefordert“, „Special Needs“ oder „Handicap“ sind unnötige Schönfärbereien. Sie machen deutlich, dass die Person, die die Bezeichnungen nutzt, Angst davor hat, etwas falsch zu machen, anstatt Respekt gegenüber Betroffenen zu zeigen.
Was stört dich am meisten daran, wie Menschen ohne Behinderung mit oder über Menschen mit Behinderungen sprechen?
Mich stört am meisten, dass nicht behinderte Menschen über das Thema Behinderung reden und viel zu wenig Betroffene selbst zu Wort kommen. Weiterhin werde ich selbst – genau wie andere – häufig auf meine Behinderung reduziert. In Interviews, zu denen ich eingeladen werde, werde ich fast ausschließlich zu den Themen Barrierefreiheit und Inklusion befragt. Ich finde es zwar toll, dass Menschen versuchen, diesen Themen eine Plattform zu geben und ich dazu reden darf, andererseits habe ich auch noch andere Kompetenzen. Das wird oft vergessen.
Über behinderte Menschen wird viel aus der Perspektive von nicht Behinderten gesprochen.
Viele kennen dich aus Talkshows oder von Plattformen wie Instagram und TikTok. Wie startete dein Weg in die Medienlandschaft eigentlich?
Zum einen war ich schon immer jemand, der gern im Mittelpunkt stand und sich für die Medienlandschaft interessiert hat. Während meines Studiums habe ich ein Praktikum beim Radiosender Fritz hier in Berlin gemacht und anschließend einige Jahre dort in der Redaktion gearbeitet. Zum anderen habe ich mich in meiner Abschlussarbeit mit der Darstellung von behinderten Menschen im deutschen Fernsehen beschäftigt und so festgestellt, dass viel über behinderte Menschen aus der Perspektive von nicht behinderten Menschen gesprochen wird. Das wollte ich ändern. Also startete ich mit Twitter.
In einem deiner Blogbeiträge hast du über Geldgebe-Prozesse geschrieben. Inwiefern werden Menschen mit Behinderung dabei benachteiligt?
Oft müssen Menschen mit Behinderung gegenüber Menschen, die keine Behinderung haben, argumentieren, warum ein Projekt für Menschen mit Behinderung sinnvoll ist. Das Absurde ist, dass Menschen ohne Behinderung oft die Entscheidungsgewalt darüber haben, wo die Gelder investiert werden.
… ist ein Berliner Aktivist und klärt unter anderem über die Themen Inklusion und Barrierefreiheit auf. Er studierte Gesellschafts- und Wirtschaftskommunikation sowie Design Thinking und ist Mitbegründer des Vereins Sozialhelden e.V. Raul wurde 2013 mit dem Bundesverdienstkreuz am Bande ausgezeichnet. Neben zahlreichen Projekten veröffentlichte er 2014 seine Biografie "Dachdecker wollte ich eh nicht werden – Das Leben aus der Rollstuhlperspektive". Seit 2015 moderiert er seine eigene Talkshow "KRAUTHAUSEN – face to face" zu den Themen Kultur und Inklusion. Nebenbei ist Raul unter anderem auf Instagram (@raulkrauthausen), Twitter (@raulde) und TikTok (@raul.krauthausen)
Du hast auf deiner Webseite geschrieben, dass jeder Mensch die Möglichkeit hat, einen Teil zur Barrierefreiheit beizutragen und seinen Wohnort inklusiver zu machen. Wie kann ich das zum Beispiel tun?
Du könntest dich in deinem Alltag umschauen und fragen, wo die behinderten Menschen in deiner Schule, deinem Sportverein oder deiner Uni eigentlich sind und warum sie nicht da sind. Meist sind behinderte Menschen deswegen nicht da, weil sie aussortiert werden in Förderschulen, Behindertenwerkstätten, Berufsbildungswerke oder Behindertenwohnheime. Diese Parallelindustrie wird damit gerechtfertigt, dass behinderte Menschen besonderen Schutz und besondere Förderung brauchen. In Wirklichkeit schützen wir damit die Mehrheitsgesellschaft davor, barrierefrei zu werden und sich mit den Themen Vielfalt oder Behinderung auseinanderzusetzen.
Für Behindertenwerkstätten wird ja gerade das Thema Mindestlohn diskutiert. Wie stehst du dazu?
Eigentlich haben Behindertenwerkstätten juristisch gesehen den Auftrag, behinderte Menschen für den allgemeinen Arbeitsmarkt zu qualifizieren. Die Realität sieht aber anders aus: Menschen, die dort arbeiten, verdienen weniger als den Mindestlohn für nahezu gleiche Arbeit, weil diese Werkstätten profitabel sein müssen. Zudem sind Unternehmen mit mehr als 20 Mitarbeitern nach deutschem Gesetz verpflichtet, fünf Prozent ihrer Belegschaft mit einer Behinderung einzustellen. Statt selbst Menschen mit Behinderungen zu beschäftigen, ist es aber leichter, die Tätigkeiten in Behindertenwerkstätten auszulagern. Oft wird argumentiert, dass Menschen mit Behinderung weniger arbeiten könnten aufgrund ihrer Behinderung. Das kann gut sein – aber warum müssen sie dann überhaupt arbeiten? Zudem nutzen Firmen es gerne als Aushängeschlid, dass sie mit Behindertenwerkstätten zusammenarbeiten.
Es ist schwierig, hundertprozentige Inklusion zu erreichen.
Raul will zum Nachdenken anregen und klärt über verschiedene Medien zu den
Themen Inklusion und Barrierefreiheit auf. Ihm ist aber wichtig, dass alle wissen:
Er kann auch noch mehr als das.
Aber welche Voraussetzungen wären denn aus deiner Sicht nötig, damit Inklusion gelingen kann? Kann Inklusion überhaupt zu hundert Prozent gelingen?
Ich finde diese Frage sehr spannend, weil ich mich manchmal frage, ob man Frauen diese Frage auch stellen würde, wenn es um Feminismus geht. Bei der Beseitigung von Diskriminierung entdecken wir zwangsläufig immer mehr Diskriminierung. Deswegen ist es schwierig, eine hundertprozentige Inklusion oder Gleichberechtigung zu erreichen. Das bedeutet aber nicht, dass man aufgeben sollte, daran zu arbeiten.
Wünschst du dir manchmal, dass mehr Menschen ohne Behinderung die Menschen mit Behinderungen in ihrem Aktivismus unterstützen?
Das kann man ganz gut mit der Frauenbewegung vergleichen. Es braucht auch Männer, die sich für den Feminismus einsetzen, um eine Gleichberechtigung der Geschlechter zu erreichen. Genauso braucht die Behindertenbewegung, bei einem Behindertenanteil von nur zehn Prozent in unserer Gesellschaft, auch Menschen ohne Behinderung, die für Barrierefreiheit kämpfen. Wenn sich jemand für behinderte Menschen starkmachen will, würde ich aber grundsätzlich dazu raten, erstmal zuzuhören, anstatt gleich loszugehen. Die Aufgabe nicht behinderter Menschen ist es in diesem Zusammenhang, den Menschen mit Behinderung die Bühne zu überlassen, anstatt für sie zu sprechen.
Ich möchte zum Nachdenken anregen.
Erlaube mir zum Abschluss noch eine etwas andere Frage: Wenn du für einen Tag alle Plakate in Deutschland bedrucken könntest, was wäre der Inhalt?
Ich würde Fragen stellen, über die Menschen ohne Behinderung noch nie nachgedacht haben. Das könnte zum Beispiel sein: Wusstest du, dass die Privatwirtschaft nicht verpflichtet ist, barrierefrei zu sein? Wie viele Menschen mit Behinderung kennst du persönlich mit Vor- und Nachnamen? Könntest du dir eine Beziehung mit einem behinderten Menschen vorstellen? Ich möchte auf jeden Fall zum Nachdenken anregen, statt Plakate aufzuhängen, auf denen steht: „Behinderte Menschen sind auch Menschen“, denn das ist Banane. Ich glaube, das haben mittlerweile alle verstanden.
Text von Frieda Rahn, hat sich direkt über Ehrenämter für mehr Inklusion in ihrer Stadt informiert.
Fotos von Tony Haupt, der von der Individualität eines jeden Einzelnen fasziniert ist.