Alle Menschen sollten den gleichen Zugang zu Schulbildung erhalten. Dieser Forderung würden wahrscheinlich die meisten zustimmen. Doch wenn es um Menschen mit Behinderungen geht, wird das Ganze scheinbar bereits komplizierter. Da gibt es verschiedene Ansätze. Unterschiedlichste Bedürfnisse. Ganz zu schweigen von einer Reihe von Vorurteilen und Streitpunkten. Dabei steht im Artikel 24 der UN-Behindertenrechtskonvention ganz klar: Menschen mit Behinderung haben ein Recht auf Bildung und dürfen nicht davon ausgeschlossen oder diskriminiert werden. Auch Deutschland hat den Vertrag unterschrieben. Aber ist unser Bildungssystem auch wirklich danach ausgerichtet?
In der Vergangenheit standen für Kinder mit Behinderungen vor allem Förderschulen offen – je nach Region heißen sie auch Sonderschule, Schule mit sonderpädagogischem Förderschwerpunkt oder Förderzentrum. Dort wird auf ihre individuellen Bedürfnisse eingegangen und es gibt einen besseren Betreuungsschlüssel als an anderen Pflichtschulen. Eigentlich ein Pluspunkt. Das Problem ist jedoch: Dadurch werden die jungen Menschen auch abgesondert von anderen Altersgenossen. Schüler mit und ohne Behinderung finden so kaum Kontakt zueinander. Vorurteile und Berührungsängste sind dadurch vorprogrammiert. Außerdem verlassen viele Schüler die Förderschulen wieder, ohne je einen offiziellen Abschluss gemacht zu haben. Alle Kinder gemeinsam an Regelschulen zu unterrichten, hätte also vor allem Vorteile. Doch wie soll das gelingen – durch Integration oder Inklusion? Schauen wir uns die beiden Konzepte mal genauer an.
Inklusion schließt alle mit ein
Auf den ersten Blick sehen sie sich sehr ähnlich. Sowohl bei Integration als auch bei Inklusion geht es darum, Menschen mit Behinderungen Teilhabe zu ermöglichen. Sie nicht aus-, sondern im Gegenteil ganz selbstverständlich mit einzuschließen. Jedoch mit unterschiedlichen Voraussetzungen und Zielen. Mit der Integration wird versucht, junge Menschen in ein bestehendes System einzugliedern. Im Fälle der Schule würde das heißen: Es ändert sich erst einmal nichts daran, wie unterrichtet wird. Ausschließlich für die neu hinzukommenden Kinder und Jugendlichen mit Behinderungen werden spezielle Ausnahmen getroffen, damit sie am Unterreicht teilnehmen können. Das kann zum Beispiel bedeuten, dass eine extra geschulte Person eingestellt wird, die das Kind im Unterricht begleitet, ihm bzw. ihr Hilfestellungen gibt, wo diese nötig sind. Das Prinzip der Inklusion jedoch geht von einem anderen Ziel aus. Es versucht, das ganze System von Grund auf neu zu denken. Schule soll also im besten Fall so gestaltet werden, dass auf alle Kinder und ihre spezifischen Bedürfnisse individuell eingegangen werden kann. Dabei geht es gar nicht ausschließlich um junge Menschen mit nicht ausschließlich um junge Menschen mit Behinderung. Jede lernende Person hat andere Schwierigkeiten und Herausforderungen im Klassenzimmer zu meistern, nicht zuletzt aufgrund ihrer gesellschaftlichen Positionierung – als Arbeiterkind zum Beispiel oder Person mit Migrationshintergrund. Anders als Integration denkt die Inklusion die Behinderung sowie andere soziale Benachteiligungen nicht von der Person her, sondern vom System her. Es ist nicht der Mensch, der behindert ist, sondern die Gesellschaft, die ihn behindert. Oder diskriminiert. Deshalb muss das System Schule sich ändern – nicht einzelne Schüler, die hineinkommen.
Braucht das Bildungssystem einen Strukturwandel?
Auf den ersten Blick scheint klar zu sein, welche Lösung die bessere ist: die Inklusion. Das Konzept Integration kümmert sich schließlich vor allem um den Einzelfall. Es werden Sonderfälle geschaffen und behinderte Kinder, die eigentlich in den Unterricht eingeschlossen werden sollen, sind wieder nur die Extrawurst. Inklusion andererseits denkt jede lernende Person als Individuum, statt alle in behindert und nicht behindert einzuteilen. Mit dem Konzept Inklusion ist die Frage, die sich stellt, nicht, wie bestimmte Kinder besser mit den gegebenen Bedingungen zurechtkommen. Sondern eher: Wie können wir die Bedingungen anpassen, damit sie den unterschiedlichen Bedürfnissen aller gerecht werden?
Das in der Realität umzusetzen, ist jedoch
nicht ganz so einfach. Mal eben das gesamte Schulsystem in Deutschland umzukrempeln, geht nicht von heute auf morgen. Die meisten Lehrpersonen sind nicht darauf vorbereitet, auf Bedürfnisse von jungen Menschen einzugehen, die bis jetzt einfach nicht Teil ihres Aufgabenspektrums waren. Geschweige denn, dass sie bei strikten Lehrplänen und meist ungünstigen Betreuungsschlüsseln Zeit dazu hätten. Wenn eine Lehrkraft sich um dreißig Kinder kümmern muss, kann meiner Meinung nach nicht von ihr verlangt werden, jedes einzelne voll in den Unterricht mit einzubeziehen. Inklusive Klassenzimmer brauchen einfach eine viel engere Betreuung der Kinder, also mehr Lehrpersonen für umgekehrt weniger Lernende. Kritische Stimmen nehmen genau diese Problematiken zum Anlass, den inklusiven Ansatz an Regelschulen von vornherein zum Scheitern zu verurteilen. Förderschulen seien einfach besser ausgestattet, um auf spezifische Bedürfnisse von behinderten Kindern einzugehen, heißt es da zum Beispiel. Oder es wird prognostiziert, dass Kinder mit Lernschwierigkeiten andere, leistungsstärkere Kinder im Lernprozess zurückhalten würden. Dabei könnte es doch genauso gut umgekehrt passieren. Dadurch, dass sich alle gegenseitig helfen, haben sowohl Leistungsschwächere als auch Leistungsstärkere etwas davon. Darüber hinaus stellt sich für mich die Frage, wie viele Schülerinnen und Schüler ohnehin bereits in einem nicht-inklusiven System übersehen werden. Ich meine Kinder ohne Behinderungen, denen einfach eine andere Lernmethode mehr nutzen würde als die aktuell von der Lehrkraft angebotene. Und eigentlich ist das doch der Sinn und Zweck der Schule, oder? Wie kann es da sein, dass sich Schülerinnen und Schüler ständig an das Schulsystem anpassen, und nicht umgekehrt?
Digitalisierung als Lösung des Problems
Es gibt bereits Beweise dafür, dass es auch anders geht. An der Dannewerkschule in Schleswig zum Beispiel nutzt man technische Mittel, um nicht nur allen Kindern ein Lernen abgestimmt auf ihre Bedürfnisse zu ermöglichen. Sondern auch, um die Frage danach zu beantworten, wie die Schule mit der Bildung von Medienkompetenz auf eine zunehmend digitalisierte Welt reagieren kann. Computerprogramme erlauben den jungen Lernenden, sich selbstständig mit den Inhalten zu beschäftigen. Das bedeutet jedoch nicht, dass die Interaktion mit pädagogischen Fachkräften ganz wegfällt – eine Zukunftsvision, die für Gegner der Digitalisierung allzu oft als Schreckensbild herhalten muss. Die Schülerinnen und Schüler sind nicht auf sich allein gestellt. Sie können jedoch die moderne Technik nutzen, um etwaige Behinderungen auszugleichen. Zum Beispiel indem sie zusätzliche Erklärungen in Videoform abrufen oder sich Lerninhalte in ihrer eigenen Geschwindigkeit und Lautstärke ansehen können. Natürlich braucht es für die Lösung, die die Dannewerkschule gefunden hat, auch das nötige Budget, und der Weg, den es bis hierhin gebraucht hat, war sicher nicht leicht und brauchte einige Umstellungen – und zwar in der Schule selbst und auch bei den Pädagogen, Eltern und Schülern. Aber die Schule geht mit einem Positivbeispiel voran und zeigt, dass von der Inklusion an Schulen alle profitieren. Sogar Lehrkräfte, die durch technische Lösungen besser auf die Bedürfnisse ihrer Schüler eingehen können.
Ich glaube, die Schule der Zukunft ist eine inklusive. Schließlich gibt es vielfältige Gründe, aus denen junge Menschen im aktuellen Schulsystem Probleme damit haben, dem Unterrichtsstoff zu folgen. Diese Schwierigkeiten sollten wir nicht immer auf den einzelnen Menschen abwälzen und ihn zwingen, sich anzupassen, denn viele der Probleme von jungen Lernenden sind das Resultat gesellschaftlicher Ungleichheiten. Diese gilt es generell auszugleichen und zu verändern – und warum sollten wir damit nicht schon im Klassenzimmer beginnen? Noch ist die Inklusion aller in ein und denselben Unterrichtsraum eine Utopie, doch der Weg dahin hat bereits begonnen. Vielleicht müssen integrative Konzepte erst einmal als Zwischenlösung herhalten – sie dürfen aber nicht als Ende der notwendigen Entwicklung angesehen werden.
Text: Pierre Hofmann, vermisst beim Thema Inklusion einen diversitätssensiblen Ansatz.