Ragna, 24:„Das ist nur fair!“
Ich bin für den Vermerk auf den Zeugnissen. Das Zeugnis des Schülers wird dadurch ja nicht schlechter und die Leistung in meinen Augen auch nicht entwertet. Der Notendurchschnitt ist ebenso wenig davon betroffen und darauf kommt es bei den meisten Studiengängen schließlich an – siehe Numerus clausus und Abiturnote. Damit bewirbt man sich an den Hochschulen: je besser der Schnitt, desto wahrscheinlicher die Aufnahme.
Ich glaube, auf so ein winziges, zusätzliches Detail achtet dabei keiner und auch potenzielle Arbeitgeber überfliegen ein Zeugnis meist. Auch in vielen Ausbildungsberufen wird mittlerweile Abitur gefordert und die meisten Chefs sind froh, wenn sie Bewerber bekommen, die pfiffig sind und zuverlässig arbeiten – von einer nachgewiesenen Lese-Rechtschreibstörung hängt das nicht ab.
Außerdem denke ich, ist der Vermerk wichtig, um eine gewisse „Fairness“ herzustellen.
Wenn ich in einer Klausur Schreibfehler mache, wird mir das als Fehler angerechnet und ich bekomme Minuspunkte. Stellt euch mal vor, jemand mit ausgewiesener Legasthenie würde für jeden Schreibfehler einen Punktabzug kassieren. Das wäre nicht fair! Deshalb ist es nur richtig, dass die Lehrer Bescheid wissen. Das gilt auch für alles, was nach der Schule kommt: Nur wenn offen mit der Legasthenie umgegangen wird, können der Uni-Prof, die Abteilungsleiterin oder der Kollege nachvollziehen, dass die Buchstabendreher nicht ein Zeichen von Übermüdung sind, sondern Teil einer „Krankheit“.
Sicher würde es auch schon helfen, das Thema in der Gesellschaft besser bekannt zu machen und die Begrifflichkeiten wie „Krankheit“ oder „Störung“ zu entschärfen. Wenn jemand als krank eingestuft wird, werden er und seine Leistung automatisch herabgestuft. Da gilt es nicht nur Toleranz zu zeigen, sondern auch in der Praxis verstärkt auf gemischte Lerngruppen zu setzen, die sich gegenseitig helfen (z.B. beim Korrigieren von Aufsätzen).
Zu guter Letzt: Jeder hat Schwächen, das ist nichts wofür man sich schämen müsste. Im Gegenteil, ich bin schon häufig Menschen mit dieser „Einschränkung“ begegnet, (und mir fällt es schwer, diesen Begriff an dieser Stelle zu nutzen, weil ich es gar nicht als Einschränkung empfinde) die damit sehr offen umgehen und darüber auch lachen können.
So zum Beispiel Andrea, eine gute Freundin meiner Mutter. Als ehemalige Besitzerin eines Blumenladens gab es Herausforderungen, aber durch ihre Offenheit mit dem Thema war das kein Problem. Manchmal musste sie Schleifen für Kränze beschriften. Um dabei dem Fehlerteufel zu entgehen, hat sie einfach die Kunden gebeten, ihr genau aufzuschreiben, was darauf stehen soll.
Wer offen mit der Legasthenie umgeht, der wird sich an einem solchen Vermerk auf dem Zeugnis nicht stören. Nur eine offene Haltung kann zukünftig dazu führen, dass keine Diskriminierung stattfindet und Leistungen von Schülern wesentlich individueller betrachtet werden, als es im Moment der Fall ist.
Teaserbild: Moritz Rakutt
Lisa, 18:„Schwächestempel für die Betroffenen“
Stellt euch folgende Situation mal vor: Herr Huber ist zuständig für die Vergabe eines Nebenjobs an einer Kinokasse. Er bekommt 20 Bewerbungen und nimmt sich vor, fünf Bewerber zum Vorstellungsgespräch einzuladen. Vier Bewerber hat er bereits ausgewählt. Am Ende hat er noch zwei Bewerbungen in der Hand und noch ein Vorstellungsgespräch zu vergeben. Beide Bewerber haben ein Abitur mit einem Schnitt von 2,5 und somit die gleiche Qualifikation. Nun bemerkt er, dass bei dem einen Bewerber auf dem Abiturzeugnis folgender Vermerk steht: „Aufgrund einer fachärztlich festgestellten Legasthenie wurden Rechtschreibleistungen nicht bewertet.“ Frage: Welchen Bewerber wird Herr Huber nun zum Vorstellungsgespräch einladen?
Legasthenie hat nichts mit Intelligenz oder Kompetenz zu tun. Das ist klar – sollte es zumindest sein. Allerdings ist es sehr wahrscheinlich, dass die meisten Leser dieser Beispielsituation davon ausgehen, dass Herr Huber sich „natürlich“ für den Bewerber ohne Legasthenie entschieden hätte. Ich persönlich hätte auch darauf getippt.
Die Vorurteile sind einfach in unserer Gesellschaft zu groß, als dass ein Legasthenie-Vermerk im Abizeugnis keine Rolle für den weiteren beruflichen Werdegang spielt. Obwohl die meisten Menschen vermutlich sagen, dass Legastheniker nicht weniger intelligent seien als Menschen ohne Lese- und Rechtschreibschwäche, so würden sie unbewusst dennoch sicher den Legastheniker benachteiligen. Ich persönlich auch. Und das, obwohl ich selbst einige Jahre in meiner Schullaufbahn den Ausgleich wegen Legasthenie bekommen habe. In der Oberstufe kam dann die Frage für mich auf: Nehme ich den Vorzug für Legastheniker in Anspruch, mehr Zeit bei Klausuren zu bekommen und dass Rechtschreibfehler nicht gewertet werden? Oder ist mir ein Abiturzeugnis lieber, in dem kein Vermerk über den vermeintlichen Makel zu lesen sein wird? Ich habe mich für Letzteres entschieden. Ich hatte Angst, dass bei Bewerbungen an der Uni oder an einer Ausbildungsstelle durch die Bemerkung im Zeugnis ein schlechtes Licht auf mich fallen könnte. Dass Vorurteile laut werden, dass ich nicht richtig lesen oder schreiben könne. Und wer will schon jemanden einstellen, der solch elementare Dinge nicht beherrscht?
Jetzt könnte auch der Ausruf laut werden, dass man doch Legasthenie einfach „wegtrainieren“ kann, und Schüler, die einen Ausgleich in Kauf nehmen, einfach zu faul sind oder in der Grundschule nicht richtig aufgepasst haben als es um Lesen und Schreiben ging. Diese Annahme stimmt allerdings nur bedingt. Natürlich kann eine Lese-und Rechtschreibstörung durch viel Lesen und bestimmtes Training verbessert werden, allerdings funktioniert das nicht immer. Und es kommt dabei auf den Schweregrad der Legasthenie an.
Muss man Schwächen also tatsächlich schwarz auf weiß dokumentiert haben, in einem Zeugnis? Immerhin bekommt damit aktuell nicht nur das amtliche Dokument, sondern auch der Betroffene einen Schwächestempel aufgedrückt. Und da bin ich entschieden dagegen! Das Grundproblem ist die Einstellung der Gesellschaft zu dem Thema Legasthenie. Daran sollte unbedingt gearbeitet werden – aktuell allerdings scheint die Gesellschaft noch nicht so weit zu sein.