In einer so großen Stadt wie Paris ist es leichter, sich vorzumachen, dass es Mord und Totschlag zwar überall gibt, aber gewiss nicht in der eigenen kleinen Welt. Anders kann ich mir nicht erklären, warum mich die Meldung „Schießerei in Pariser Zeitungsredaktion” erst einmal völlig kalt lässt: Ich fahre ungerührt weiter nach Hause. Doch der ersten Eilmeldung folgen immer weitere mit immer schrecklicheren Details. Andauernd ziehen jetzt Mitreisende ihre Smartphones aus der Tasche und bei jedem neuen Pling schütteln sie ein wenig entsetzter den Kopf.
Eine Redaktion wird niedergemetzelt
An diesem Mittag, so wird nach und nach klar, haben zwei Brüder namens Chérif und Saïd Kouachi die Redaktionskonferenz der französischen Satire-Zeitung „Charlie Hebdo” im elften Bezirk überfallen. Die beiden Rückkehrer aus dem syrischen Bürgerkrieg waren mit Maschinenpistolen und Raketenwerfern bewaffnet. Sie erschossenen elf Menschen - darunter den Herausgeber und Chefredakteur Stéphane Charbonnier und drei weitere Zeichner, die in Frankreich viele Fans haben. Andere Mitarbeiter der Zeitung wurden zum Teil schwer verletzt. Auf der Flucht erschießt einer der beiden Attentäter noch einen Polizisten.
Charlie Hebdo
Charlie Hebdo ist eine französische Satire-Zeitung mit einer langen Tradition. Sie ist bekannt dafür, sich mit ihren Karikaturen über alles und jeden in derbster Form lustig zu machen, auch über sämtliche Religionen. “Charlie Hebdo” war eine der wenigen Zeitungen, die Mohammed-Karikaturen abdruckten. Sie wurde erst 2011 Opfer eines Brandanschlags, bei dem niemand verletzt wurde. Obwohl ein Großteil der Redakteure ermordet wurde, soll am Mittwoch wie geplant eine neue Ausgabe erscheinen - nicht in der üblichen Auflage von 60.000 Stück, sondern in drei Millionen Exemplaren.
Schnell scheint festzustehen, dass es sich bei der gezielten Ermordung der Journalisten um einen islamistischen Terroranschlag handelt: Nicht nur, dass die beiden während des Überfalls „Allahu akbar” („Allah ist groß”) riefen - „Charlie-Hebdo” ist nicht einfach irgendeine Zeitung (siehe Infokasten). Ein Land wie Frankreich muss ein solcher Überfall auf Journalisten mitten in Paris verstören.
Terroralarm tritt in Kraft
Wenige Stunden nach dem Überfall, es ist Abend geworden in der Stadt. Manche Studenten an meiner Universität haben noch gar nicht mitbekommen, dass sich in ihrer Stadt ein Anschlag ereignet hat. Inzwischen ist in der Stadt die höchste Terrorwarnstufe ausgerufen worden. Vor öffentlichen Gebäuden postieren sich die Hausmeister. Sie streifen orange Warnwesten über, nesteln an Funkgeräten herum und lassen sich, noch etwas linkisch, den Inhalt unserer Rucksäcke zeigen.
In der Uni treffe einen Kommilitonen, der mich zum Platz der Republik in der Stadt führen will. Dort haben sich spontan Tausende Menschen zu einer Mahnwache versammelt. Die Pariser Metro fährt nur im Schneckentempo, auch das, wie auf einem Bildschirm zu lesen ist, „aus Sicherheitsgründen”. Wir steigen aus, aber der Platz und seine Metro-Station sind vollkommen überfüllt. Wir stehen auf einer Treppe zur Oberfläche. Vor uns lässt jemand irgendetwas knallen. Es ist rührend zu sehen, wie alle Welt vorgibt, keine Angst vor dem Terror zu haben und insgeheim doch zusammenzuckt. „Wenn jemand in so einer Menge eine Bombe zünden würde; das wäre das perfekte Ziel“, raunt mir mein Begleiter zu.
Spontandemo für Meinungsfreiheit
Nach und nach gelangen wir an die Oberfläche. Es sind nicht Tausende, sondern Zehntausende Menschen gekommen; junge Menschen vor allem, die im Internet von dem Attentat erfahren haben. Viele strecken als Zeichen des Widerstandes mitgebrachte Kugelschreiber und Buntstifte in die Luft. Was als Mahnwache begonnen hat, ist längst zu einer spontanen Demonstration für Meinungsfreiheit geworden. Die Parole „Je suis Charlie” („Ich bin Charlie”) steht auf unzähligen selbst gebastelten Schildern.
Spontan demonstrieren tausende Menschen in
Paris für Presse- und Meinungsfreiheit in
Gedenken an die Opfer des Terroranschlags.
Foto: Theo Müller
Hätten sie geahnt, dass das Grauen noch nicht zu Ende sein sollte, wären vielleicht nicht ganz so viele Menschen auf den Place de la République gekommen. Denn am Morgen darauf erschießt ein Mann, mutmaßlich ein dritter Attentäter namens Amedy Coulibaly, im Süden von Paris eine Polizistin. Die Brüder Kouachi sind währenddessen immer noch auf der Flucht, die Polizei spürt sie in einer Druckerei im Nordosten der Stadt auf. Sie haben dort Geiseln genommen und kündigen an, „als Märtyrer” sterben zu wollen. Am nächsten Tag, Freitag, betritt Coulibaly einen jüdischen Supermarkt, nimmt Geiseln und erschießt weitere vier Menschen. Beide Geiselnahmen enden am Freitagnachmittag, alle drei Attentäter werden von der Polizei erschossen.
Was jetzt?
Die Sicherheitsmaßnahmen bleiben auch nach dem vorläufigen Ende des Anschlags hoch, denn niemand scheint so recht zu wissen, ob es noch Komplizen oder Sympathisanten der Pariser Bande gegeben hat. Coulibalys Frau scheint sich nach Syrien abgesetzt zu haben. In aller Welt wird der Opfer in Paris gedacht - während offenbar gleichzeitig Hunderte Menschen in Nigeria ebenfalls islamistischem Terror zum Opfer gefallen sind. Der Satz „Je suis Charlie” wird zum internationalen Symbol der Trauer und des Kampfes für die Meinungs- und Pressefreiheit.
Am Sonntag darauf gehen in Frankreich knapp vier Millionen Menschen für diese Werte auf die Straße. Staatschefs aus aller Welt kommen ebenfalls in die französische Hauptstadt, darunter solche, die in ihren Heimatländern nicht mit sonderlichem Engagement für Bürgerrechte aufgefallen sind. Der „Republikanische Marsch” ist aller Wahrscheinlichkeit nach die größte Demonstration, die Frankreich seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs erlebt hat. Im Großraum Paris können an diesem Tag alle Züge und Busse kostenlos benutzt werden, Menschen aller erdenklichen Glaubensrichtungen sind gemeinsam versammelt. Anders als vier Tage zuvor haben sich auch viele Familien dieser unfassbar großen Menschenmenge angeschlossen. Ich beobachte gut vorbereitete Straßenhändler: Einer verkauft Bier für fünf Euro pro Dose, direkt aus dem Einkaufswagen. Zwei andere bieten an einem Holzstand auf dem Boulevard Saint-Martin Pullis und T-Shirts mit Je-suis-Charlie-Aufdruck an.
Eine unüberschaubare Menschenmenge
SPIESSER-Autor Theo ist vor Ort, als Millionen
Menschen am 11. Januar zum Solidaritätsmarsch
in Paris auf die Straße gehen. Foto: Theo Müller
Sonderlich großen Umsatz machen sie vermutlich nicht, denn aus dem „Republikanischen Marsch” wird für die meisten eher ein „Republikanisches Stehen”. Es sind einfach zu viele Menschen gekommen, einige schaffen es bis zum Abend nicht, zur eigentlich vorgesehenen Marschroute vorzudringen. Familie Boutin steht mit Vater, Mutter und den zwei Kindern schon seit Stunden auf einem Fleck. „Ich bin gekommen, damit der Tod dieser Journalisten nicht umsonst war”, erzählt mir der 14-jährige Alexis. „Es ist wichtig zu zeigen, dass man keine Angst hat.”
Es ist ein hoffnungsvolles Beispiel, denn in den kommenden Wochen wird sich nicht allein die französische Gesellschaft fragen, wie sich vermeintlich im Namen des Islam begangene Terroranschläge am besten verhindern lassen. Zusammenhalt nach einer Woche des Terrors zu demonstrieren ist eine Sache - die in der Gesellschaft aufgerissenen Gräben langfristig zu schließen, dürfte vor allem die Aufgabe dieser jüngsten Generation auf den Straßen von Paris werden.
Juden in Frankreich
Im vergangenen Jahr sind rund 7.000 Juden aus Frankreich nach Israel ausgewandert, so viele wie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr. Viele von ihnen fühlen sich in ihrer Heimat nicht länger sicher, seit sie immer häufiger antisemitische (judenfeindliche) Anfeindungen, Gewalttaten sowie Anschläge auf jüdische Einrichtungen ertragen müssen. Auch der Betreiber des Pariser Supermarktes, in dem sich einer der Islamisten verschanzte, will nach Israel auswandern.
Text: Theo Müller
Teaserfoto: Flickr-User Valentina Calà (CC BY-SA 2.0)
Also c) = b). Hinter der Pressefreiheit stehen, sich aber damit noch nicht ("zwangsläufig", hat das Wort gefehlt?) mit der inhaltlichen Ausrichtung und deren Umsetzung von Charlie Hebdo identifizieren.
Was die Situation der Juden betrifft: Ich habe den Beitrag komplett gelesen (was für eine Unterstellung!), sehe aber in dem Zitat "Es ist wichtig zu zeigen, dass man keine Angst hat", das nicht weiter hinterfragt, sondern für sich stehen gelassen wird, einen Widerspruch zu den Handlungen der Menschen, die jetzt fliehen. (Frage: Bezeichnet nicht "Flucht" bereits eine Art Angst vor etwas, vor dem man flieht/flüchtet?) Das noch schnell in einem Info-Kasten anzufügen halte ich für sehr schwierig, weil es eine Distanz zu dem schafft, was davor im Fließtext steht. Ambivalente Einschätzungen/Meinungen sollten m.E.n. ebenbürtig nebeneinander stehen und nicht - ohne nachvollziehbaren Grund, oder zählt das Übergewicht derer, die sagen, sie haben keine Angst? - optisch und inhaltlich getrennt sein. Das kannst du natürlich gern bezweifeln.
Am häufigsten ist mir die Option c) derjenigen begegnet, die hinter der Pressefreiheit sehen und sich gleichzeitig mit dem Blatt identifizieren, ohne dessen publizistische Entscheidungen in jedem Fall gut zu heißen. Was die Situation der Juden betrifft: einfach mal den Beitrag komplett lesen.
Je suis Charlie - ich stehe a) hinter rassistischer oder religiöser Kritik unter dem Deckmantel der Satire und geh seit kurzem häufiger montags mit dem Hund raus oder b) hinter der Pressefreiheit und verurteile jede sinnlose Gewalt, identifiziere mich damit aber nicht mit dem Blatt?
Seit wann haben "die in Paris" keine Angst? Wie viele Menschen jüdischen Glaubens verlassen gerade die Stadt, weil sie sich nicht mehr sicher fühlen? Oder wie ist die These gemeint? Gehören Juden nicht dazu?
Spiesser... sind die kritischen Redakteure wohl mal wieder (r) ausgeflogen? Willkommen (selten hat das so gut gepasst) im Tal der Ahnungslosen...