Die Uhr an der Wand zeigt zwanzig nach neun an, als die Kinder der zweiten Klassenstufe an der Bramfelder Grund-schule in Hamburg die Tablets vor sich auf ihren Tischen aufklappen. „Nun dürft ihr die letzten zehn Minuten bis zur Pause die Anton-App machen“, lautet die Anweisung der Klassenlehrerin. Verschiedene Ziffern werden nun von den Kindern in die Felder auf dem Bildschirm getippt, bei korrekter Lösung der Aufgaben wird weitergewischt. So oder so ähnlich gestaltet sich inzwischen der Alltag an vielen deutschen Schulen. Die Arbeit mit elektronischen Medien ist kein Fremdwort mehr und auch die Entwicklungen im Bereich KI sorgen immer stärker für Gesprächsbedarf in Bildungseinrichtungen. Deshalb wird auch im Schulsystem die Frage danach immer lauter, inwiefern die Digitalisierung hier ihren Platz finden kann – und sogar muss.
Als „Künstliche Intelligenz“ werden Software- und Hardwaresysteme bezeichnet, die autonom und zielorientiert arbeiten. Sie zeichnet aus, dass sie eigenständig in der Lage sind, Probleme zu lösen, ohne dass jeder einzelne Schritt von einem Menschen programmiert wurde. Auf diese Weise gelingt es ihnen, rational und abstrakt zu handeln, was sonst ausschließlich menschlicher Intelligenz zugeschrieben wird. Da es in unserer Gesellschaft jedoch schwierig ist, festzulegen, was als „intelligent“ gilt, gibt es für KI keine allgemein festgeschriebene Definition. KI-Systeme werden durch Daten trainiert, um sich Wissen anzueignen; menschliches Zutun wird hierbei auch nur als Starthilfe benötigt.
KI bietet individuelle Lernangebote und Empfehlungen.
Unter starker KI werden huma-noide Roboter verstanden, die wie in Science-Fiction-Filmen logisch denken und handeln können. Real sind starke KI-Systeme aktuell nur in Nischen wie etwa beim Schach. Star-ke KI, die es vermag, den Menschen in seinen Fähigkeiten zu übertreffen, ist aus aktueller Sicht unrealistisch. Schwache KI hingegen umfasst Bereiche wie Spracherkennung, Navigation, Übersetzungshilfen oder personalisierte Werbung. Mithilfe von Algorithmen und unzähligen Daten aus Datenbanken bearbei-tet eine schwache KI Aufgaben auf Basis vorher selbstständig erlernter Lösungsweisen. Diese Form der KI hat bereits Einzug in unser alltägli-ches Leben gehalten.
Denjenigen, die während der Entwicklung des World Wide Web zur Schule gegangen sind, wird der Gedanke kaum fernliegen, bei der Vorbereitung auf eine Mathe-Klausur zum Beispiel ein YouTube-Tutorial zur Auflösung nach X anzuschauen. Auch die Arbeit mit Laptops an Schulen wirkt mittler-weile standardmäßig. Nicht zu vergleichen ist dies allerdings mit dem noch weitaus folgenschwereren Schritt, in dem KI-Systeme offiziell als nächster Meilenstein in der Digitalisierung von Schule angestrebt werden.
In der Studie „KI@Bildung: Lehren und Lernen in der Schule mit Werkzeugen Künstlicher Intelligenz“ von der Telekom-Stiftung ist zunächst die Rede davon, dass KI-Systeme die Chance bieten, individuelle Förderung über den Schulunterricht hinaus zu unterstützen. Die Schulen in Deutschland stehen heutzutage vor der Herausforderung, dass immer mehr unterschiedliche Leistungs-niveaus, Förderbedarfe sowie sozio-kulturelle Unterschiede unter den Lernenden vorhanden sind, dazu kommt der Nachhol-bedarf als Folge der Corona-Krise. Durch all das sind Lehrkräfte mehr gefordert denn je, während die Schulen gleichzeitig einen Mangel an Lehrpersonal beklagen. Das sind Problematiken, denen sich KI-Systeme in der Schule zukünftig widmen sollen.
KI-Systeme könnten laut der Erkenntnisse der Telekom-Stiftung durch „Learning Analytics“ und „Educational Data Mining“ den Lernstand der einzelnen Schüler sowie mögliche kognitive und motivationale Prob-leme in kurzer Zeit feststellen. Infolgedessen kann KI individuell zugeschnittene Lernan-gebote und Empfehlungen anbieten. Virtuell verfügbare Tutoren und intelligente Assis-tenten wie Chatbots könnten dabei jederzeit und ortsunabhängig eingesetzt werden. Wird es somit real, dass künftig vermehrt auf Selbstlern-Angebote wie Lernspiele und Video-Tutorials gesetzt wird? Nach dem Bildungsgipfel im Herbst 2020 zeichnet sich das durchaus ab: Dort wurde vom Bund entschieden, die Bundesländer vermehrt mit innovativen digitalen Bildungsmedien auszu-statten. Daraufhin wurde das intelligente tutorielle System „Aera9“, das in Dänemark und Großbritannien schon länger Teil des Schulalltags ist, an verschiedenen Schulen in Sachsen und Mecklenburg-Vorpommern getestet. „Aera9“ passt sich den Lernenden an, indem es die Fehler und den aktuellen Wissensstand berücksichtigt, und setzt damit auf personalisiertes Lernen.
Hausaufgaben werden nicht abgeschafft, sie funktionieren nur anders.
Die Erhebung, Analyse und Auswertung von Daten über Lernende innerhalb ihres Lernkontexts wird als „Learning Analytics” bezeichnet. „Educational Data Mining“ beschäftigt sich damit, Methoden zur Erforschung von Daten aus dem Bildungskontext zu erfassen. Beide zielen darauf ab, den Lernprozess von Lernenden zu durchschauen und darauf basierend zu verbessern.
Werden dann herkömmliche Hausaufgaben mit dem wachsenden Angebot an Online-Learning-Hilfen und immer verfügbarem Wissen, auf das digital zugegriffen werden kann, überflüssig? Die Hausaufgabenkontrolle durch Lehrkräfte erfordert schließlich einen hohen zeitlichen Aufwand, für den oftmals im Unterricht kein Platz ist. Den KI-Fachkundigen zufolge werden Hausaufgaben nicht abgeschafft, sie funktionieren nur anders. Die Unterstützung durch KI könnte dabei den Lehrkräften Arbeit abnehmen und den Schülern ein automatisches, maßgeschneidertes Feedback geben. Denn es zählt immerhin zu den bedeutendsten Einflussfaktoren auf den Lernerfolg und die Motivation der Lernenden. KI-Experten sehen direktes Feedback durch KI während der Hausaufgabenbearbeitung damit als Möglichkeit, die Chancengerechtigkeit im Bildungssystem zu steigern.
Mehr als nur Lernhilfe
Nicht nur das Lernen als Bestandteil der Institution Schule könnte durch KI-Systeme modernisiert werden, sondern auch die Organisation im Schul-Management. Neben der Erfassung von schulischen Datenbeständen könnten KI-Systeme mit Schülern und Eltern über Online-Plattformen interagieren und damit den Schulleitungen einiges an Arbeit abnehmen.
Das leicht kurios erscheinende Zukunftsszenario, das in vielerlei Aspekten nach einem wahr gewordenen Traum für alle Beteiligten innerhalb der Schule klingt, kann anderer-seits auch sehr kritisch hinterfragt werden. Vor allem, wenn es um die Befürchtung geht, dass die digitale Verfügbarkeit durch KI zu einer Abhängigkeit und dementsprechenden Vernachlässigung analoger Fähigkeiten wie Kopfrechnen und Schreiben mit der Hand führt.
Interessant ist auch die Frage, ob menschliche Interaktion so einfach durch Technik ersetzt werden kann. Schulen gelten neben ihrer Funktion, Wissen zu vermitteln, als Institution, in der Heranwachsende soziales Miteinander lernen. Bei sozialer Interaktion, zum Beispiel beim Vergleichen von Ergebnissen in abbremsen, auch wenn wir dort ein Schild mit 120 km/h Maximalgeschwindigkeit sehen würden. Wir reagieren dabei auf unser Wissen, dass in Ortschaften eine Maximalge-schwindigkeit von 50 km/h erlaubt ist. Wenn sie mit unvollständigen oder unlogischen Informationen trainiert wurde, birgt KI somit das Risiko, gegebenenfalls falsche Informationen an Schüler zu vermitteln.
Das ist laut den Experten der Punkt, an dem den Lehrkräften auch in Zukunft eine sehr wichtige neue Rolle zukommt: Sie müssen kritisches Denken vermitteln. Was an Universitäten mittlerweile fast schon eine Selbstverständlichkeit geworden ist, ist die Vermittlung der Fähigkeit, die auch als „gesunder Menschenverstand“ gilt. Das ist etwas, das Künstliche Intelligenzen maßgeb-lich von Menschen unterscheidet. Nach KI-Expertin Maria Wirzberger müssen Schul-aufgaben daher so gestaltet sein, dass von den Schülern selbst kritisch gedacht werden muss.Laut Dr. Andreas Dengel, Standortleiter am Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz, kann KI eine Lehrkraft ohnehin keinesfalls ersetzen, sondern immer nur in Verbindung mit ihr arbeiten. KI-Experte Prof. Christopher Schommer beschreibt es damit, dass „der Lehrer zum Architekten der Wissensvermittlung für alle“ werde. Vermieden werden sollte dabei im Sinne des Datenschutzes allerdings, dass KI dazu benutzt wird, dass mithilfe der Sammlung von Daten kontrolliert wird, ob die Lernenden interessiert sind und mitarbeiten. Sonst würden auf diese Weise Bewertungen geschaffen, die wiederum eine Situation der Ungleichheit hervorbringen – womit wir wieder weit entfernt von der gewünschten Chancengerechtigkeit wären. Technisch ist jedoch genau das schon möglich: Durch die fortschreitende Optimierung der digitalen Gesichtserkennung wird im Lernlabor des Deutschen Forschungszentrums für KI in Kaiserslautern an der Entwicklung von Schulbüchern gearbeitet, die registrieren, ob die Schüler den Inhalten folgen oder nicht. Wenn sie ihren Blick beispielsweise zu lange auf eine Textstelle richten, werden ihnen weitere Erklärungen eingeblendet.
Bei all diesen revolutionär, teilweise schon skurril anmutenden Möglichkeiten durch KI sollte berücksichtigt werden, dass pädagogisch und psychologisch gesehen eine Lehrperson noch ganz andere Einwirkmög-lichkeiten hat, die sich schwer in KI-Systeme übertragen lassen.
Bei KI in Schulen sind viele noch skeptisch.
Laut Maria Wirzberger ist die mensch-liche Intuition von Lehrkräften ein wesentlicher Punkt, durch die sie die Stimmung der Lernenden schnell ein-schätzen und darauf reagieren können.Im Gegensatz zu anderen Ländern wie Japan oder China stehen die Deutschen dem Einsatz von KI in Schulen insgesamt noch vergleichsweise skeptisch gegenüber. Ob dies angebracht sein mag oder nicht: Eine kritische Herangehensweise an das Thema bietet die Chance, im Schulsystem künftig eine gesunde Balance zu schaffen – zwischen der Modernisierung durch KI und der Be- wahrung herkömmlicher Kompetenzen wie Kopfrechnen oder handschriftliches Arbeiten.
1966: Joseph Weizenbaum entwickelt das Programm „ELIZA“, das mit Listen und auf Basis einfacher Regeln Antworten geben kann.
Um 1973: Die Programmiersprache „PROLOG“, die mit der Verarbeitung von Fakten und Regeln auf ma-thematischer Logik beruht, wird erfunden.
1997: Das erste Mal treten Roboter innerhalb des RoboCups im Fußball gegeneinander an.
2010: Die Kommerzialisierung der KI in alltäglichen Anwendungen beginnt.
Text von Fabienne Kollien, die trotz aller Vorteile technischer Errungenschaften die Interaktion innerhalb der analogen Welt nicht missen möchte.