Worum geht's?
So viel kann man schon mal vorwegnehmen: Die Initiative Bildungsgang ist mit dem aktuellen Schul- und Bildungssystem ganz und gar nicht zufrieden. „Wo gehört das Schulsystem hin? In die Tonne.“ Das sind die ersten Worte des Films, während sym-bolisch das Schulsystems in einem Sarg vor dem baden-württembergischen Kultusministerium zu Grabe getragen wird.
Der Film begleitet dokumentarisch den Versuch junger Menschen, die Schule praktisch von unten, also aus der Rolle als Schüler heraus, zu demokratisieren und zum Besseren zu verändern. Viele der Protagonisten erzählen ihre persönlichen Erfahrungen mit der Schule. Sie sehen das aktuelle System als einengend und stellen für sich fest, dass Schule aktuell die Lust zum Lernen nimmt, statt sie zu fördern. Sie fordern deshalb eine neue Art von Bildung und Schule und gehen die ersten Schritte auf dem Weg dahin. Um es mit ihren eigenen Worten zu sagen: „Wenn die Schule ein Sonnensystem ist, dann steht der Schüler im Mittelpunkt und Lehrer, Eltern und Pädagogen kreisen um ihn herum.“ Was die Protagonisten fordern, sind weniger Konkurrenz unter Schülern, kein unnötiger Druck durch Noten und Zeugnisse, sondern kreative Selbstentfaltung und Spaß am Lernen. Darum geht es. Und dafür kämpfen sie. Mit Demonstrationen, Plakaten, Stickern, Konferenzen und schlussendlich eben auch mit diesem Film. Regisseur ist Simon Marian Hoffmann. Er ist selbst Teil von Demokratische Stimme der Jugend e.V. und deshalb auch in vielen Szenen des Films zu sehen und zu hören.
Action: ✪ ✪
Romantik:
Humor: ✪
Niveau: ✪ ✪ ✪ ✪
Bildungsfaktor: ✪ ✪ ✪ ✪ ✪
Filmischer Augenschmaus?
Am Anfang stehen schnelle Schnittbilder, wie Plakate aufgehangen, Sticker geklebt, Flugblätter geworfen, Sprüche auf den Boden geschrieben und Banner gemalt werden. Man sieht viele junge Menschen auf Demonstrationen und bei Musikvideo-Drehs, die voller Tatendrang lachen, singen, tanzen, schreien. Die Stimmung ist ansteckend. Und gleich nach einem Schnitt befindet man sich plötzlich in einem in warmes Licht getauchten Raum, an der Wand baumelt eine Lichterkette und im Zentrum vor der Kamera sitzt eine Person, die aus ihrer Schulzeit berichtet. Und wieder kann man alles nachempfinden und fühlt die Schmerzen, die Leistungsdruck und „Notenprostitution“ mit sich gebracht haben. Da ist es auch nicht schlimm, wenn manche Aufnahmen von Workshops und Diskussionsrunden etwas amateurhaft wir-ken. Authentisch sind sie allemal.
Mit wem angucken?
Regisseur Simon Marian Hoffmann formuliert es im Interview mit der ARD-Sendung „titel thesen temperamente“ so: „Der Film ist eine Einladung an Eltern und an Lehrer, sich das Feedback von Schüler:innen anzuschauen und mal hinzufühlen: was wollen die eigentlich.“ Ich denke, dass er außerdem auch unbedingt mit anderen Schülern, Freunden und Bekannten geguckt werden sollte, denn was der Film ja selbst zeigt, ist: Gerade diejenigen, die selbst noch in der Schule sind, müssen für ihre Forderungen einstehen, da es ja sonst niemand tut.
Was macht man danach?
Erst mal macht man sich Gedanken. Wie das sein kann, dass Schüler voller Lebenslust in dieses System kommen und resigniert nach 9 bis 13 Jahren herausgestoßen werden. Und dann beginnt man sich zu emanzipieren, wird Teil einer Organisation (sei es für bessere Bildung oder etwas ganz anderes) und nutzt seine Kraft und Zeit, um wirkliche Veränderung zu fordern und umzusetzen.
In drei Worten:
Bildungsrevolution, Mitbestimmung, empowernd
Kritik:
Die Dokumentation gibt an der einen oder anderen Stelle Anlass zur Kritik. Eine Frage, die der Film offen lässt, ist, was denn aber passiert, wenn es um Themen geht, für die Schüler sich nicht von selbst motivieren. Aus eigener Erfahrung kann ich sagen, dass mir das sture Auswendiglernen von historischen Daten ganz gewiss keinen Spaß gemacht hat und mich ohne den Notendruck wohl nichts und niemand dazu hätte motivieren können. Ich brauchte in diesem Fall den Notendruck, bis ich entdeckte, dass das Aneignen dieser Art von Wissen interessant und hilfreich ist. Dass diese Frage im Film keine Erwähnung findet, hinterlässt leider den leichten Nach-geschmack, dass die Aktivisten hin und wieder etwas naiv an die Sache herangegangen sind. Ein weiteres Problem besteht darin, dass ein im Film vorgestelltes Schulkonzept darauf basiert, dass sich jedes Kind individuell nach seinen eigenen Fähigkeiten und Interessen entfalten kann. Dafür würde es allerdings auch viel mehr Menschen brauchen, die im Bildungssektor arbeiten. Daran scheitern auch heute schon viele Lehrer, die vielleicht gerne eine neue Art von Unterricht realisie-ren wollen, dafür aber schlicht und ergrei-fend nicht genügend Kapazitäten haben.
Aber nicht falsch verstehen: Der Mangel an Arbeitenden im Bildungssektor ist nicht der Grund, an dem die Revolution der Schulen scheitert. Der liegt nach wie vor woanders: der fehlende oder zumindest noch zu geringe Wille zur Veränderung in Politik, Wirtschaft, Bevölkerung und nicht zuletzt auch im Bildungssystem selbst. Das Ziel von „Bildungsgang“ ist es, diesen Willen hervorzurufen, zu verstärken und zu mobi-lisieren, damit es zu wirklicher Veränderung kommt. Der Dokumentation ist ein Zitat der schwedischen Schriftstellerin Astrid Lindgren vorangestellt: „Freiheit bedeutet, dass man nicht unbedingt alles so machen muss wie andere Menschen.“ Fast schon eine Binsenweisheit, könnte man meinen. Aber genau darin steckt die Stärke des Films. Er zeigt, dass es kein Abitur braucht, um zu verstehen, dass das jetzige Schulsys-tem einige Veränderungen nötig hat. Und „Bildungsgang“ hat nicht nur ein oder zwei starke Argumente gegen das Schulsystem, sondern benennt das Problem im Kern.Die Forderung nach der Demokratisie-rung der Schulen trifft den Nagel auf den Kopf. Denn dieses Ziel leben die Akti-visten bereits jetzt und sind somit das beste Argument für ihren Appell. Ja! Junge Menschen stecken voller Tatendrang und möchten gerne mitmischen! Die Energie von „Bildungsgang“ ist nicht nur bewun-dernswert, sie steckt an und löst das aus, was die Schule so oft erstickt: den Drang dazu, Veränderung selbst in die Hand zu nehmen.
BILDUNGSGANG.
BILDUNG NEU DENKEN.
Regie: Simon Marian Hoffmann
Kinostart: 08. Juni 2023
Filmlänge: 96 Minuten
Genre: Dokumentarfilm
FSK: ab 12 Jahren
Text von Simon Kretzschmar, der zwar jetzt mit der Schule fertig ist, sich aber trotzdem ein offeneres Schulsystem wünscht.