Von Zeit zu Zeit schwirrt mir folgende Frage im Kopf herum: Warum braucht es in Deutschland eigentlich Organisationen wie „Die Tafel“ oder „Die Arche“, die Menschen das tägliche Essen zur Verfügung stellen müssen, weil sie es sich selbst nicht leisten können? Leben wir nicht eigentlich in einem der Länder der Erde, in denen jeder genug zum Leben hat? Wir gehören doch zum reichen Westen. Und, wenn ich mich richtig erinnere, sind wir doch das Land, das sich das Leben in Würde (wofür keinen Hunger zu leiden eine grundlegende Bedingung ist) in den ersten Artikel seiner Verfassung geschrieben hat, richtig?
Vermögensungleichheit in Deutschland
Wir leben gemessen am Bruttoinlandsprodukt pro Kopf im 17.-reichsten Land der Welt. Aber das Vermögen der Deutschen ist keinesfalls gleich verteilt. Betrachtet man die gesamte über 17-jährige deutsche Bevölkerung, so stellt man fest, dass die untere Hälfte nur 1,4 Prozent des deutschen Gesamtvermögens besitzt, während allein die obersten zehn Prozent der Vermögenden rund 56 Prozent des komplettdeutschen Besitzes ihr Eigen nennen (Anm. der Red.: Die Zahlen entsprechen einer Datengrundlage aus dem Jahr 2017). Diese große Ungleichheit zeigt, dass die Deutschen im Durchschnitt zwar sehr reich sind, aber dass es auch sehr viele Menschen gibt, die nicht diesem Durchschnittswert entsprechen und sehr viel weniger besitzen. Und wenn das Geld auf dem Konto knapp ist oder eine Person sogar ein negatives Vermögen, also mehr Schulden als Besitz, hat, tritt bald auch das Problem auf, dass sie sich keine Lebensmittel mehr leisten kann. So geht es in Deutschland zwischen 7,5 und 8 Millionen Menschen. Sie sind arm oder zumindest von Armut bedroht und verdienen weniger als 60 Prozent des durchschnittlichen Einkommens.
Der Staat deckt den Grundbedarf ab, oder?
Nun könnte man jedoch argumentieren, dass in Deutschland durch das Arbeitslosengeld II (umgangssprachlich „Hartz IV“ genannt) alle Menschen durch ein grundlegendes Sozialsystem vom Staat aufgefangen werden, wenn sie ein geringes oder gar kein Einkommen haben. Erst am 01. Januar 2022 stieg der Hartz-IV-Regelsatz auf aktuell 449,- Euro an, die jeder deutsche Staatsbürger im arbeitsfähigen Alter mindestens im Monat bekommt, wenn er keiner Erwerbstätigkeit nachgeht. Davon sind etwa ein Drittel für Essen und Getränke vorgesehen, was auf einen Tag gerechnet etwas mehr als 5 Euro für Lebensmittel entspricht. Damit ist erst mal eine minimale tägliche Ernährung möglich. Ein Mensch muss sich jedoch für ein gesundes Leben und eine aktive gesellschaftliche Teilhabe auch gesund und ausgewogen ernähren. Nun ist es allerdings so, dass Zucker, Getreide und pflanzliche Öle, also sehr fett- und kohlenhydratreiche Zutaten, von Lebensmitteln in der Produktion viel günstiger sind als vitaminreiches Obst und Gemüse. Daraus resultiert, dass ungesunde, Übergewicht und Krankheiten verursachende Lebensmittel sehr oft günstiger sind als ihre gesunden Alternativen. Von Armut betroffene Menschen können sich deshalb in vielen Fällen keine gesunde Ernährung leisten. Also es stimmt: Wir haben in Deutschland kaum ein Problem mit chronischer Unterernährung, bei der der Körper schlichtweg zu wenige Lebensmittel zu sich nimmt – wir alle kennen sicher die Bilder von hungernden Menschen in anderen Weltregionen. Was wir haben, ist vorrangig ein riesiges Problem im Hinblick auf ausgewogene und vor allem gesunde Ernährung. Dieser Mangel an bewusster Nahrungsaufnahme ist auch in wachsendem Maße in der Gesamtbevölkerung zu beobachten, aber die ärmeren Schichten werden dazu gezwungen und können sich nicht besser ernähren, selbst wenn sie es wollten. Von etwas mehr als 5,- Euro am Tag lässt sich das einfach nicht umsetzen.
Chronischer Hunger
Auch wenn Hunger aufgrund schlichter Nichtverfügbarkeit von Nahrung in Deutschland glücklicherweise nicht weit verbreitet ist, so wäre es auch falsch zu sagen, dass es ihn gar nicht gibt. Immer wieder sieht man Menschen auf Gehwegen, in Parks oder auf Bahnhöfen, die sich keine Wohnung leisten können. Die individuellen Gründe dafür reichen von Drogenabhängigkeit bis hin zu familiären Problemen. Gleich ist bei ihnen jedoch in den allermeisten Fällen, dass sie schon aus einkommens- und vermögensschwächeren familiären Kontexten stammen. Es wird also deutlich: Nicht alle Menschen in Deutschland haben die gleichen Voraussetzungen und Chancen auf ein gutes Leben. In Obdachlosigkeit Lebenden fehlt es an den grundlegendsten Dingen: Wohnung, Sicherheit – und eben auch Nahrung. Sie sind meist absolut auf die Angebote von Hilfsorganisationen und Mittagsküchen angewiesen. Erst am 07. Juli 2022 warnte jedoch beispielsweise die Sächsische Zeitung: „Muss Pirnas‚ Tafel‘ schließen? Zwar werden derzeit genügend Lebensmittel für Bedürftige gespendet. Aber es fehlt der Tafel in Pirna an Mitarbeitern. Deshalb gibt es einen Hilferuf.“
Zucker löst im menschlichen Körper ein Glücksgefühl aus.
Durch den Einsatz von Zucker in der Pro-
duktion wird der Preis für die Lebensmittel
niedriger. So können die Hersteller auch an
ärmere Menschen verkaufen.
Viele Hilfsorganisationen in Deutschland sind überfordert mit der durch die Corona Pandemie nochmals gestiegene Anzahl an Menschen, die nicht ausreichend gesunde Lebensmittel zur Verfügung haben. So rutschten beispielsweise auch viele Kinder und Jugendliche während der Lockdowns in Ernährungsunsicherheit, da sie aufgrund der Schließung der Schulkantinen nun kein gesichertes Mittagessen mehr hatten. Außerdem tragen auch die hohen Gas- und Lebensmittelkosten infolge des Angriffskrieges in der Ukraine dazu bei, dass sich arme Menschen immer weniger Nahrung selbst leisten können. Wolfgang Büscher, Sprecher der „Arche“, zeichnete beispielsweise am 24. Juni 2022 gegenüber der Rhein-Neckar-Zeitung ein ziemlich düsteres Zukunftsbild: „Ich habe in Deutschland Kinder und Erwachsene mit Mangelernährung gesehen, aber noch niemanden mit Hunger. Aber der Hunger wird kommen.“ Des Weiteren fügt er hinzu: „Ich gehe davon aus, dass die ersten in wenigen Monaten hungern werden.“
Die Armut des einen ist der Gewinn des anderen
Das System der marktwirtschaftlich organisierten Lebensmittelindustrie auf der Welt besteht darin, dass es verschiedene Hersteller von Lebensmitteln gibt, die ihre Produkte, also beispielsweise Brot, Nudeln oder auch Smoothies, den Konsumenten, also uns Menschen, anbieten.
Nun gibt es jedoch viele verschiedene Smoothie-Hersteller (und Brot-Bäcker und
Nudel-Fabrikanten). Alle von ihnen möchten, dass die Menschen vor allem ihren Smoothie kaufen. Deshalb versuchen sie, ihn so lecker wie möglich schmecken zu lassen, damit
möglichst viele von uns ihn wieder und wieder trinken wollen. Dafür eignet sich Zucker sehr
gut. Er ist für Unternehmen günstig einzukaufen und löst im menschlichen Körper
schnell ein Glücksgefühl aus. Da durch den großen Einsatz von Zucker und anderen
im Allgemeinen als ungesund geltenden Lebensmitteln in der Produktion der Preis für die Lebensmittel niedriger wird, können die Hersteller auch an ärmere Menschen verkaufen. Diese Idee haben allerdings auch die Konkurrenten. Deshalb versuchen in unserem Beispiel alle Smoothie-Hersteller einen immer geringeren Preis für ihr Produkt (den Smoothie) zu erreichen, indem sie mehr und mehr günstige Zutaten verwenden, wodurch die eigentlich gesund anmutenden Smoothies wiederum tendenziell eher ungesünder werden. Während
nun viele gut verdienende Menschen mit einem großen Vermögen einfach auf gesündere und dafür etwas teurere Smoothies umsteigen können, müssen von Armut betroffene Menschen stark auf den Preis ihrer Einkäufe schauen und nehmen deswegen dann oft die ungesündere, aber dafür günstigere Variante. Sie unterstützen damit gezwungenermaßen die Unternehmen, die diese Smoothies produzieren. Einige Hersteller profitieren also davon, dass sich viele Menschen schlichtweg keine qualitativ hochwertige Nahrung leisten können.
Eine abwechslungsreiche Ernährung muss man
sich erst mal leisten können. Hersteller profitieren
leider davon, dass sie Produkte mit billigen unge-
sunden Zutaten anbieten und viele Menschen diese
aus Mangel an finanziellen Mitteln kaufen müssen.
Was dagegen tun?
Das größte Problem in Deutschland ist nicht, dass Ressourcen nicht vorhanden wären, sondern dass sie ungerecht verteilt sind. Theoretisch sind genug Lebensmittel da, um alle Deutschen damit zu versorgen und ihre Nahrungssicherheit zu gewährleisten. Allerdings haben wir ein riesiges Problem damit, dass viele davon gar nicht erst auf die Tische Verbraucher gelangen, sondern vorher schon im Müll landen. Innerhalb der EU werden 20 Prozent der Lebensmittel nicht effektiv als Nahrung verwendet, sondern werden weggeworfen. Das kommt zum einen daher, dass viele Verbraucher viel mehr kaufen, als sie am Ende wirklich verzehren. Zum anderen achten Händler bei der Wahl ihres Sortiments nicht nur auf die Genießbarkeit eines Produktes, sondern auch stark auf dessen Aussehen. Diesen Test bestehen viele Lebensmittel (vor allem frische Waren wie Obst oder Gemüse) nicht, weshalb sie dann schnell in der Biotonne landen, obwohl sie noch problemlos essbar wären. Viele Menschen würden sich auch mit den nicht perfekt aussehenden Nahrungsmitteln zufriedengeben und sie noch verzehren – doch sie bekommen sie gar nicht angeboten. Das sogenannte „Containern“ ist die Umsetzung des beschriebenen Gedankens in die Realität. Menschen gehen dabei an die Müllcontainer und Abfalleimer von großen Supermarktketten und suchen aus dem Weggeworfenen noch genießbare Lebensmittel heraus. Allerdings bewegen sie sich mit diesem Handeln in der Illegalität. In Deutschland ist das Containern nämlich nicht erlaubt, da die Mülltonnen auf dem Grundstück eines Supermarktes als dessen Eigentum gelten. Containern kann deshalb als Hausfriedensbruch und auch als Diebstahl bestraft werden.
Text von Simon Kretzschmar, hat während den Recherchen für diesen Artikel selbst viel Neues über Hunger & Armut gelernt.