Vor ca. 250 Jahren definierte Immanuel Kant die Grundsatzfrage des Zukuftsdenkens durch die Annahme, dass in der Moderne eine stetige, graduelle Verbesserung geschehen sollte. Und so gesehen ist diese Zukunftsvision eingetreten. Unser Leben ist ständig in Bewegung: wir drehen uns von A nach B, von der Arbeit in die Freizeit, vom Stress in die Entspannung, vom Alltag in den Urlaub. Willkommen im Zeitalter des Tempowahns, der allzeitigen Verfügbarkeit, des Zeitgewinns durch Zeitverlust, des stetigen online-seins und der totalen Vernetzung. Dies sind nur ein paar Stichworte aus dem Entschleunigungsdiskurs, einer Lebensphilosophie, die momentan immer mehr Anhänger findet – und das über alle Altersgrenzen hinweg. Während sich die Welt um uns immer schneller dreht, sind wir auf der permanenten Suche nach der perfekten Art uns zu entspannen, denn nicht Macht oder Geld, sondern Zeit und Geschwindigkeit regieren unseren Lebensalltag.
Willkommen im Zeitalter des Tempowahns
Hartmud Roser, Soziologe und wissenschaftliche Autorität in Sachen Beschleunigung und Zeitfragen, beschreibt die momentane Situation unserer Gesellschaft als einen „Zustand von rasendem Stillstand und akuter Zeithungersnot“. Das bedeutet, dass die sich Menschen in einer immer schnelllebigeren Zeit gezwungen sehen, durch beispielsweise Arbeitsüberhäufung zu versuchen, so viel wie möglich in möglichst kurzer Zeit zu erledigen.
Wir reagieren auf die sich immer schneller drehende Welt mit den
abgedrehtesten Zeitmanagementplänen?
Egal in welchem Teil unseres Lebens, Zeitersparnis ist das Ziel. Doch dass man Zeit weder steuern noch sparen kann, hat schon Michael Ende in seinem im Jahre 1973 erschienenen Roman „Momo“ festgestellt. Darin geht es um ein kleines Mädchen, das bemerkt wie ihre Freunde immer verbissener versuchen Zeit zu sparen und dabei vergessen, ihr Leben mit schönen Momenten zu füllen und zu genießen. Das Resultat ist stetige Unzufriedenheit. Ich habe das Buch das erste Mal mit zwölf Jahren gelesen und lese es seit dem jedes Jahr mit Freude wieder.
Für mich hat die Geschichte momentan eine besonders große Relevanz. Wir reagieren auf die sich immer schneller drehende Welt mit den abgedrehtesten Zeitmanagementplänen: Morgens beim Frühstückskaffee schon mal ein paar Mails beantworten, während man die Nachrichten anhört und sich schminkt? Kein Problem. Ich ertappe mich in letzter Zeit immer öfter dabei, dass ich zu viele Dinge auf einmal machen möchte. Das klappt natürlich nicht. Und wenn ich mich dann mal wieder wundere, warum eigentlich nicht, fällt mir ein Zitat aus Momo ein, in dem der alte Straßenkehrer Beppo erklärt, wie er eine Aufgabe angeht: „Man darf nie an die ganze Straße auf einmal denken, verstehst du? Man muss nur an den nächsten Schritt denken, an den nächsten Atemzug, an den nächsten Besenstrich. Und immer wieder nur an den nächsten.“ Wenn man zu viel auf einmal machen möchte, klappt das halt nicht.
Die Kontrolle wiedergewinnen
Jedoch bin ich mit meinem Multitaskingwahn nicht alleine. Meine Kommilitonin Anna erzählt mir, dass sie in letzter Zeit immer öfter das Gefühl hat, keine Zeit für nichts zu haben. Irgendwie ist immer etwas zu tun. Daher ist es nicht verwunderlich, dass wir uns nach Entschleunigung sehnen. Nach einem Leben, in dem wir in aller Ruhe eine Sache nach der anderen erledigen können, es uns erlauben auch einfach mal nichts zu tun. Anna und ich sitzen in dem Café, in dem wir uns auch gerne zum gemeinsamen Arbeiten treffen. Heute jedoch ohne Laptops, sondern mit dem Ziel sich „nur“ zu unterhalten. Etwas, das wir schon viel zu lange nicht mehr gemacht haben und das sich zu Beginn auch irgendwie seltsam anfühlt, ungewohnt entspannt. Dabei erzählt sie mir, dass sie vor Kurzem durch Instagram auf die Planer Community gestoßen ist, die sie dazu inspiriert hat, sich einen Ringplaner zuzulegen. In diesem hält sie nun ihr gesamtes Leben fest: Listen, Termine und Erinnerungen, alles an einem Ort.
Ein Ansatz: Das Gefühl der Kontrolle durch den Prozess des
mit der Hand Aufschreibens fördern.
Auf die Frage hin, warum sie das nicht einfach in ihrem Handy digital erledigt – so ein Papierkalender ist im Vergleich doch eher unhandlich – erklärt sie mir, dass sie durch den Prozess des mit der Hand Aufschreibens das Gefühl hat, mehr Kontrolle zu haben; Kontrolle darüber, was sie, wann und wie erledigt – Kontrolle über ihre Zeit. „Allein wenn ich Kalender und Stift raushole, habe ich das Gefühl, schon ein bisschen bewusster mit meiner Zeit umzugehen. Ich sehe auf einen Blick, wo meine Zeit in dieser Woche oder diesem Monat hin geht.“ Darüber hinaus nimmt sie sich am Wochenende ungefähr eine Stunde, um die vor ihr liegende Woche zu planen. Das ist ihre Art der Entschleunigung und mit dieser Art des bewussteren Lebens abseits des technisierten Alltags spiegelt sie unbewusst das wieder, nach dem viele junge Menschen momentan streben. Jedoch ist das mit einer bewussten Entscheidung dazu verbunden, einer Entscheidung gegen den Zeitsparstrudel und für die wichtigen Dinge im Leben.
Technik sollte uns das Leben erleichtern – eigentlich
Doch nicht nur junge Menschen werden Opfer der Zeithungersnot: Auch meine Eltern klagten letztens darüber, dass sie irgendwie immer schlechter Zeit finden, um mal zu runter zu kommen. Die explosionsartige Technikentwicklung der letzten Jahrzehnte gestaltet zwar vieles einfacher, hat aber auch dunkle Kehrseiten. Meine Eltern sind mit dem Mindset aufgewachsen, dass alles schneller, besser und auch effizienter geschehen sollte.
Nichts geht automatisch, nichts geht schnell.
Das spiegelt sich in dem Sprichwort „Zeit ist Geld“ – ein Satz, den ich durch meine gesamte Kindheit und Teenagerjahre zu hören bekommen habe in Bezug auf den Berufsalltag. Dass diese Einstellungen sehr viel von den Menschen fordert, zeigen Statistiken: Immer mehr Arbeitnehmer leiden an Depressionen und am Burn-Out Syndrom; 14,7% aller Arbeitsunfähigkeitstage lassen sich inzwischen auf psychische Erkrankungen zurück führen. Chronischer Stress macht krank und laut eigener Angabe fühlen sich neun von zehn Deutschen ständig gestresst im Beruf. Leider gehört dieser heutzutage genauso zum Alltag der meisten Deutschen wie der Morgenkaffee.
Meine Eltern haben nun angefangen, jedes Wochenende eine andere Ecke im Umfeld meiner Heimatstadt zu erkunden. „Wir gehen sehr viel spazieren und schauen uns dabei die Umgebung an. Alles ohne Hektik; wir nehmen uns einfach mal einen Tag frei um abzuschalten“, berichtet mein Vater, während er mir Bilder von ihrem letzten Ausflug zeigt. Und damit liegen sie voll im Trend: immer mehr Menschen zieht es ins Grüne, weit weg von Technik, Deadlines und Meetings. „Die Natur hilft uns dabei, zur Ruhe zu kommen und tief durchzuatmen. Am Anfang hatten wir das Gefühl, dass wir irgendetwas vergessen haben, aber das legt sich mit der Zeit. Man muss sich an die Entspannung auch erst mal gewöhnen.“
- Augen schließen und zehn Mal tief ein- und ausatmen
- aufstehen und einen Kaffee, Tee oder Kakao machen
- sich strecken und, wenn möglich, ein paar Schritte gehen
- der besten Freundin oder dem besten Freund eine Nachricht schreiben
- einen Zeitplan erstellen – mit ausreichend Pausen – frei nach dem Motto: Problem erkannt, Problem gebannt
Was mache ich denn jetzt?
Auch ich möchte gerne mein Leben etwas bewusster gestalten und dadurch entschleunigen. Dazu habe ich mir ein neues Hobby gesucht: die analoge Fotografie. Ähnlich wie Anna muss ich mir bewusst Zeit nehmen, um dieses Hobby auszuüben, was den besonderen Reiz dieser Tätigkeit darstellt. Denn im Gegensatz zu meinem Smartphone, kann ich nicht einfach draufhalten und abdrücken. Das Motiv muss ausgesucht, der Bildausschnitt ausgewählt und die Kamera dementsprechend eingestellt werden. Nichts geht automatisch, nichts geht schnell. So kann es schon mal passieren, dass ich für ein Bild fünf Minuten brauche, bis ich den Auslöser betätige. Und ich bemerke jedes Mal, wie gut es mir tut, mir bewusst Zeit für etwas zu nehmen, das mir Freude bereitet.
Ich möchte das gerne auch auf andere Bereiche meines Lebens übernehmen. Warum muss eigentlich immer alles schnell gehen? Manchmal ist es der Prozess und nicht das Ergebnis, das die größte Zufriedenheit birgt.
- endlich das Buch lesen, das schon seit Monaten auf dem Nachttisch verstaubt
- etwas Kreatives erschaffen, egal ob schreiben, zeichnen, malen, fotografieren, stricken etc.
- ohne Plan loslaufen und einen neuen oder wohl bekannten Ort erkunden
- neue Rezepte ausprobieren und die Liebsten mit einem leckeren Essen überraschen
- ein Beet bepflanzen oder lernen wie man einen Strauß Blumen arrangiert
- tanzen – egal ob alleine daheim oder in einem Tanzkurs und sich einfach von der Musik leiten lassen
- das lernen, was du schon immer mal machen wolltest
Text: Vivienne Berg
Bilder: Vivienne Berg