Es grenzt an eine Farce, wenn wir Deutschland mit dem Großteil der Welt vergleichen: Jeder Bundesbürger besitzt eine Krankenversicherung, die im gesundheitlichen Ernstfall weitgehend absichert. Man hat die Möglichkeit und Pflicht, eine Schule zu besuchen. Und die Tage klingen in den meisten Haushalten mit einem großen Angebot an Entertainment aus. Einzig die Nachrichten geben einen Einblick in die Welt und zeigen auf, was jenseits unserer Grenzen geschieht: Naturkatastrophen stürzen Menschen in den Abgrund, Kriege um Wasser, Religion und Terrain entbrennen, Regime werden gestürzt und Menschen verfolgt. All das lässt in unzähligen Schicksalen den Wunsch nach Ruhe und Sicherheit wachsen. Für die betroffenen Menschen liegt die einzige Überlebenschance und der einzige Weg aus der Perspektivlosigkeit in einer Flucht ins Ausland – insbesondere in das gesicherte Europa. Hat ein Flüchtling es geschafft, in ein EU-Land einzureisen, muss er einen Asylantrag stellen, um eine Aufenthaltserlaubnis zu bekommen. Soweit die blanke „Theorie“.
Hightech-Zäune im spanischen Melilla sollen vor
Flüchtingen "schützen."
Festung Europa – jeder kann sie verlassen, kaum einer kommt hinein
Aus vielen Ländern, vor allem aus Afrika, versuchen Menschen zu Tausenden, Europa und Deutschland zu erreichen. Die auf afrikanischem Boden liegende spanische Stadt Melilla steht dabei im Fokus der internationalen Presse. Dort schottet sich die Europäische Union mithilfe von Hightech-Zäunen von den Flüchtlingen ab. Dennoch überwanden in einer Mai-Nacht über 500 Menschen diese Befestigung. Ein Sprecher des Bundesinnenministeriums erklärt gegenüber SPIESSER.de: „Die personelle Grenzüberwachung wird sehr häufig durch den Einsatz technischer Mittel ergänzt, um die Effizienz und die Effektivität der Grenzüberwachung zu steigern.“ Dabei sei das Ziel jedoch nicht, Flüchtlinge von Europa fernzuhalten, sondern sie „zu kanalisieren, sie zu identifizieren und bei Vorliegen der Voraussetzungen einem geordneten Aufnahmeverfahren zuzuführen“. Seit dem Jahr 2000 starben mehr als 23.000 Flüchtlinge bei dem Versuch, per Boot Europa zu erreichen, viele weitere schafften es und warten seitdem auf Asyl.
Einer dieser Menschen, die flüchteten und sich in Deutschland um Asyl bemühen, ist Yasin, 25 Jahre alt*. Im Interview erzählt der junge Mann von seiner strapaziösen Flucht aus dem Westen des Nordsudans nach Deutschland, bei der er die Sahara und das Mittelmeer durchqueren musste. Er schildert von Hürden und Gefahren, aber auch von Menschen, die ihm in der Not zur Hilfe kamen.
Yasin, was kommt dir in den Sinn, wenn du an deine Heimat Sudan denkst?
Die Situation dort ist sehr gefährlich, besonders im westlichen Nordsudan. Ich komme aus der Nähe von Darfur. Dort gibt es Probleme zwischen den Menschen und der Regierung. Vielleicht würde man mich töten oder ins Gefängnis bringen, ich weiß es nicht.
In seiner Heimat, dem Sudan, musste Yasin um sein
Leben fürchten.
Wann kam dir das erste Mal der Gedanke, aus deiner Heimat zu fliehen?
Mein Vater arbeitet bei einer Organisation, die gegen die Regierung kämpft. Die Regierung kommt und entführt die Kinder dieser Organisationsmitglieder und benutzt sie gegen die Familien und Gruppenmitglieder. Damit sind diese unfähig zu handeln.
Die Regierung benutzt Kinder, um die Organisationen zu erpressen?
Ja, genau. Jugendliche bis 15 Jahren dürfen bei ihren Familien bleiben, aber ab 16 nimmt die Regierung die Kinder weg. Um dem zu entgehen, bin ich 2009 geflüchtet. Nach Libyen, denn Libyen liegt in der Nähe des westlichen Nordsudan. Ich musste über die Sahara reisen. Allein diese Reise hat drei Tage gedauert.
Wie verlief deine Flucht?
In Libyen habe ich fast ein Jahr und sieben Monate gelebt. Es war dort jedoch sehr unsicher und nach dem Sturz der Gaddafi-Regierung 2011 musste ich Libyen verlassen. Viele Leute fahren von Libyen nach Italien über das Mittelmeer mit einem kleinen Schiff. Auch ich wollte so nach Italien kommen, aber unser Kapitän hat den Weg aus den Augen verloren. Wir waren drei Tage auf dem Meer und am Ende sind wir nach Griechenland gekommen, nach Kreta.
Wie hast du diese Bootsfahrt in Erinnerung?
Es waren 150 bis 200 Menschen an Bord, obwohl das Boot auf 60 bis 70 Leute ausgerichtet war. Die Schlepper nehmen mehr Menschen mit, als drauf passen. Es gibt viele Leute, die unterwegs sterben – auch auf unserem Boot. Aber ich denke, wir hatten Glück. An diesem Tag gab es drei Bootsreisen. Eine Reise vor uns und eine Reise nach uns. Und bei beiden sind alle Menschen gestorben. Es war schrecklich. Frauen mit ihren Kindern und niemand kann etwas dagegen tun.
Bist du alleine gereist?
Ja, ich war alleine. In Griechenland bin ich dann zwei Jahre lang geblieben. Alle wissen, dass die Situation in Griechenland sehr schlecht ist, besonders für die Asylbewerber ist sie unmenschlich. Die dortige Regierung hilft gar nicht. Deshalb musste ich Griechenland verlassen. Mein Ziel war Italien.
Wie bist du dorthin gekommen?
Das war sehr gefährlich. In Griechenland kann man mit dem Flugzeug reisen, aber dazu braucht man Geld. Es gibt aber einen anderen Weg. In der griechischen Stadt Patras am Mittelmeer gibt es einen Hafen. Jeden Tag versuchten wir Flüchtlinge, von diesem Hafen nach Italien zu kommen: Wir stehen an der Straße zum Hafen und verstecken uns in all den Mülltonnen nahe der Ampel. Dort warten wir auf die LKWs. Wenn diese an der Ampel halten, laufen wir schnell hinter ihnen her und passen auf, dass die Fahrer uns nicht sehen. Und dann klettern wir unter den Wagen zwischen die Reifen. Der LKW-Fahrer weiß nicht, dass wir uns bei ihm verstecken und muss, bevor er auf die Autofähre fährt, zu einem Kontrollpunkt. Mit Glück kann man diese Kontrolle passieren und dann zum Schiff und innerhalb von neunzehn Stunden, als blinder Passagier, Italien erreichen. Die Leute auf der Straße sagen, wir könnten dabei sterben, aber wir haben keine andere Lösung. Zwei Jahre lang habe ich jeden Tag versucht, so nach Italien zu kommen, aber die Polizei hat mich an der Kontrolle immer gefasst. Dann blieb ich zwei, drei Tage im Gefängnis, dann kam ich frei und habe es wieder versucht. Im Dezember 2012 hatte ich es endlich geschafft und bin in Italien angekommen.
Und dann bist du weiter nach Frankreich gereist?
Afrikanische Flüchtlinge fordern auch in Deutschland
ihr Recht auf schützendes Asyl ein.
Aber vorher, in Italien, musste ich noch ein paar Stunden lang unter dem LKW warten, bis er weit genug vom Hafen weggefahren ist. Fünf Stunden lang hielt der LKW nicht an, bis ich aus meinem Versteck kommen konnte. Da war der LKW aber schon in Frankreich. Ein algerischer Junge hat mich dann gefragt, warum meine Kleidung so schmutzig sei und ich habe ihm meine Geschichte erzählt. Er sagte mir, dass er mir mit sauberer Kleidung helfen könnte, mehr nicht, weil er ansonsten Probleme mit der Polizei bekommen würde. Er hat mir geholfen und sagte mir, dass ich vom Bahnhof mit dem Zug nach Paris kommen könnte, um dort einen Asylantrag zu stellen. Ich musste nach Paris fahren, habe aber den falschen Zug genommen und bin so in Deutschland angekommen. Der Schaffner hat mich gefasst, weil ich ohne Ticket gefahren bin. Ich hatte ja kein Geld für ein Ticket. Er hat also die Polizei gerufen. Die Polizei hat mich befragt und mich in ein Auffanglager gebracht. Von da aus haben sie mich nach Braunschweig geschickt. Dort habe ich einige Monate gewohnt und dann wurde ich im März 2013 in einen anderen Ort in Niedersachsen gebracht, in dem ich jetzt wohne.
Im Moment läuft dein Asylverfahren, richtig?
Der Schutz von Flüchtlingen, das Asylrecht, ist in der Bundesrepublik Deutschland seit Gründung 1949 in Artikel 16 des Grundgesetzes verankert. Demnach hat jeder Mensch, der aufgrund von politischer Verfolgung oder Verletzung der Menschenrechte oder aufgrund von Angst um Leben und Freiheit in seinem Heimatland flieht, Recht auf ein individuelles Asylverfahren. Allein zwischen Januar und März 2014 stellten über 37.800 Menschen Asylanträge in der Bundesrepublik Deutschland, davon kamen die meisten Asylanträge (1.489) von Menschen aus Somalia. Menschenrechtsorganisationen wie ProAsyl kümmern sich weiter um Flüchtlinge.
Ich warte noch auf die Antwort des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge. Bis jetzt gibt es keine Neuigkeiten. Seit Ende 2013 habe ich eine Rechtsanwältin eingeschaltet und sie hat oft beim Bundesamt gefragt, warum ich noch keine Neuigkeiten erhalten habe. Sie sagen, es gäbe viele Asylbewerber und sie machen ihre Arbeit. Ich wollte gerne zur Schule gehen, aber ich konnte es nicht, weil ich zu weit von der Stadt weg wohnte. Der zuständige Landkreis konnte mir nicht behilflich sein, was etwa Fahrtkosten angeht. Sechs Monate konnte ich nicht zur Schule. Ich war Zuhause, aß, schlief und mir war langweilig. Danach bin ich auf „Jugendliche ohne Grenzen“ (JOG) gestoßen und die Leute dort haben mir sehr geholfen. Ich bin außerdem auf den Flüchtlingsrat gestoßen. Dank dessen Hilfe kann ich nun eine Schule besuchen.
Welche Unterschiede konntest du bis jetzt zwischen dem Leben im Sudan und in Deutschland wahrnehmen?
Es gibt wirklich große Unterschiede. Im Sudan findet man keine Sicherheit. Es gibt Krieg, auch im Südsudan und in einem Teil zwischen Südsudan und Nordsudan. Die Kinder von Regierungsgegnern können nicht regelmäßig in die Schule gehen. Sie müssen eine Person in der Regierung kennen, nur dann können sie studieren. Aber hier in Deutschland muss man nur fleißig sein. Dann stehen einem alle Türen offen. Dann kann man studieren, dann kann man alles machen.
Wie blickst du in die Zukunft?
Das Asylverfahren in Deutschland dauert sehr lange. Ich warte auf die Bearbeitung meines Asylantrags seit mehr als eineinhalb Jahren. Einige seit drei, vier Jahren und es gibt keine Neuigkeiten. In dieser Zeit kann man nicht aus dem Bundesland fahren, man kann nicht arbeiten, einige Leute haben bis jetzt keine Schule. Ich finde, ich habe Glück gehabt. In dem Ort, in dem ich wohne, kann jeder Asylbewerber in eine Schule. Aber viele andere Asylbewerber müssen warten, bis sie eine Aufenthaltserlaubnis bekommen.
Bis wir eine Aufenthaltserlaubnis erhalten, können wir nicht arbeiten. Ich habe ein Schulpraktikum bei einer Wäscherei gemacht. Das Praktikum war erfolgreich und der Verwaltungsleiter wollte mich gerne bei ihm arbeiten lassen, aber ich musste erst einmal die Bundesagentur für Arbeit informieren. Aber die haben mir das verboten, weil ich Asylbewerber bin und so muss ich auf meine Aufenthaltserlaubnis warten.
Wenn ich von Niedersachsen in ein anderes Bundesland fahren will, brauche ich ebenfalls eine Genehmigung. Das heißt, wir leben nur in einem begrenzten Raum. Dass das mit der Aufenthaltsgenehmigung so lange dauert, muss überdacht werden. Wir sind am Ende alle Menschen.
*Name und Alter von der Redaktion geändert
Text: Marlon Jungjohann
Teaserfoto: UNHCR/ A. D'Amato
Fotos: Flickr-User Noborder Network (CC BY 2.0)/ Flickr-User David Stanley (CC BY 2.0)/ Flickr-User Montecruz Foto (CC BY-SA 2.0)
Danke, das freut mich! Ich stimme dir zu, wie kann es sein, dass man Menschen vor unserer (europäischen) Haustür ertrinken lässt? Es gibt zwar Rettungsprogramme, aber scheinbar versagen sie, wenn, wie vor ein paar Tagen, Hunderte wieder ertrinken. Das ist unerträglich. Ich finde dieses Schicksal sehr bewegend und es sind hunderttausende ähnliche. Es muss sich etwas ändern, wir müssen etwas ändern.
Spitzen Artikel samt Interview! Wirklich gelungen die Darstellung samt des Berichts eines vieler Betroffenen! Die Flüchtlingspolitik des Friedensnobelpreisträgers EU ist mehr als menschenunwürdig (ich bin eigentlich Fan der europäischen Politik!), aber den Preis hat sie sich, frei nach Heribert Prantl (SZ) erst noch zu verdienen. Es geht doch in der Frage und Menschlichkeit und der Frage um Schutz und Unterstützung nach meist so viel Leid durch Chaos, Unterdrückung oder Krieg nicht um Kosten oder Wirtschaftlichkeit, sondern um Herz und Hand! Was wir als Einzelne tun können? Vor Ort versuchen den Flüchtingen zu helfen. Fangen wir heute oder morgen damit an :) Denn am Ende sind wir alle tatsächlich Menschen! Danke! :)