Lukas Rietzschel: „Mit der Faust in die Welt schlagen“
Wie sieht ein Aufwachsen im ländlichen Sachsen aus? Lukas Rietzschel zeichnet ein düsteres Bild zweier Brüder, die auf der Suche nach Halt in einen rechtsextremen Freundeskreis abdriften.
22. November 2019 - 10:47 SPIESSER-Autor tom.schmidtgen.
„Mit der Faust in die Welt schlagen“ beschreibt die Geschichte zweier Brüder von 2000 bis 2015. Philipp und Tobias wachsen anfangs sehr behütet bei ihren Eltern auf, der Vater baut ein Haus in Neschwitz in der ostsächsischen Provinz. Je älter die beiden werden, desto mehr werden sie in die Konflikte der Ostlausitz hineingezogen: Verfall, Wegzug, keine Jobs, Tristesse und eine zunehmende Aussichtslosigkeit. In diesem Strudel driften Philipp und Tobias langsam und unbewusst in die rechte Szene ab. Der einzige Zeitvertreib nach der Schule scheint abhängen im Bungalow mit den älteren Jungs zu sein. Hier wird Bier getrunken, Dynamo Dresden bejubelt und nebenbei über Ausländer und Politiker hergezogen.
In der Pubertät der beiden trennen sich die Eltern. Also bleiben nur noch die Freunde mit Glatze und Auto. Mehr und mehr rutschen sie in rechtsextreme Verbindungen ab. Nebenbei werden die Pegida-Demonstrationen in Dresden erwähnt, zu denen die Freunde unbedingt wollen. Sie schmieden Pläne, wie sie der muslimischen Familie im Ort zeigen können, dass sie unerwünscht sind. Als die alte Grundschule der Brüder ein Flüchtlingslager werden soll, eskaliert die Situation.
„Mit der Faust in die Welt schlagen“
Autor: Lukas Rietzschel Veröffentlichung: 30. August 2019 Seitenzahl: 320
Wer steckt dahinter?
Lukas Rietzschel wurde 1994 in Räckelwitz in Sachsen geboren. Er studierte Politikwissenschaft, Germanistik und Kulturmanagement in Kassel. Nach dem Studium ist er aber bewusst in seine Heimat zurückgezogen. Heute lebt und arbeitet er in Görlitz. Bereits 2012 schrieb er seinen ersten Text für das ZEIT Magazin, „Mit der Faust in die Welt schlagen“ ist sein Debütroman. Seitdem veröffentlichte Rietzschel mehrere Texte in Zeitungen, in denen er versucht, über den Osten aufzuklären. Rietzschel gehört zu einer jungen, aufstrebenden Generation Ost – also das genaue Gegenteil seiner Romanfiguren. Derzeit schreibt er an seinem zweiten Roman.
Kurz und knapp oder dicker Schinken?
Das Buch hat zwar nur etwas mehr als 300 Seiten, ist aber nicht unbedingt ein „Pageturner“. Rietzschel beschreibt viel Melancholie, viele kleine Details im Aufwachsen der Brüder. Offensichtlich verarbeitet er auch eigen erlebtes aus seiner Kindheit. Wer auch im Osten der Nachwendezeit aufgewachsen ist wird sich an die Hausschuhe in der Schule oder den Streuselkuchen am Nachmittag erinnern. Die Beschreibungen ziehen sich gerade am Anfang. Erst spät nimmt das Buch Fahrt auf, sobald die Brüder abrutschen. Doch dann tut es fast weh zu lesen, wie die Jugendlichen immer tiefer in die rechtsextremen Kreise gezogen werden, ohne es zu merken. Zunehmend wird die Sprache Rietzschels derber. In indirekter Rede versucht er die Gedankenwelt der Figuren zu beschreiben, es fallen Wörter wie Kanaken, Asylanten und Untermenschen.
Für die Bahn, den Sessel oder den Pausenhof?
Eher für die Bahn, wenn man eine knappe halbe Stunde Zeit hat. Die Kapitel sind kurz – heißt, man kann auch mal fünf bis zehn Minuten darin lesen.
Auf einer Skala von 1 bis 10: Wie schwer ist es, das Buch wegzulegen?
4: Ich musste das Buch recht oft weglegen und konnte auch nicht zu lange am Stück lesen, dafür ist die Handlung einfach nicht spannend genug. Erst die letzten 100 Seiten wollte ich am liebsten direkt lesen, bis dahin musste ich mich durcharbeiten.
Wem borgt man es nach dem Lesen als erstes?
Am besten der Freundin oder dem Freund, die oder der genau wie Rietzschel ein Nachwendekind ist und viele der Erzählungen ähnlich erlebt hat und sich daran zurückerinnern mag. Oder der Freundin oder dem Freund aus dem Westen, die oder der sich oft fragt, wieso es viele rechtsextreme Strukturen in Sachsen gibt und wie Jugendliche in den Bann davon gezogen werden.
Lieblingszitat:
„Alte Fabriken, Hoyerswerda, Weißwasser. Dieses ganze eingefallene, verlassene Zeug. Untergegangene, traurige Scheiße. Kein Mensch auf der Straße. Abriss und Leerstand. Aber Hauptsache raus, Hauptsache was unternommen. Damals dies, damals das. Tobias rümpfte die Nase. Die Schulen, die sie schlossen, die Sparkassen und Arztpraxen. Die Kreise, die sie zusammenlegten, die Gemeinden und Städte. Die Wege wurden länger, die Entfernungen größer.“ (S. 248)
In drei Worten:
beängstigend, trist, rau
Text & Teaserbild: Tom Schmidtgen Coverfoto: Ullstein Buchverlage
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