Was ist, wenn unsere Friedenszeit vorbei ist? Wenn ein Willkürregime Menschen in eine Maschinerie einschleust, die Gewalt legitimiert? Mary, eine Studentin in den 70er Jahren, findet sich dort wieder. Und zeigt dabei auf, wie aktuell das Thema ist. Denn diese Geschichte kann überall stattfinden, jederzeit.
Maria lebt in einem Land, das von einer Militärjunta regiert wird. Auch ihre Eltern sind Teil dieser Maschinerie. Doch als sie Anfang der 1970er Jahre während ihres Architekturstudiums Dimo kennen lernt, zieht sie sich zurück, von einem Vater, der lieber zuschlägt als redet, einer Mutter, die depressiv ist und einem Bruder, der das Land verlassen hat, um in Alaska eine neue Zukunft zu finden. Sie benennt sich in Mary um, trägt Slacks und ihr Freund führt die Studentenproteste gegen das Regime an. An dem Tag, an dem die Geschichte beginnt, erfährt Mary, dass sie schwanger ist und sie eilt an die Uni, um Dimo zu finden. Es ist auch der Tag, an dem die Studentenproteste am Universitätsgebäude gewaltsam niedergeschlagen werden. Mary wird durch das Militär verhaftet.
Es folgt ein Leidensweg, der in einer zum Gefängnis umgewandelten Tiefgarage beginnt und weiter in einen berühmt-berüchtigten Knast am Rande der Stadt führt. Zu guter Letzt endet Mary auf einer unbewohnten Insel, die einem KZ ähnelt. Sie und ihre Mithäftlinge werden von den Soldaten zur Teestunde mit Gebäck, einem Synonym für Vergewaltigungen, eingeladen. Ärzte in weißen Kitteln traktieren sie außerdem mit dem Strom von Autobatterien. So sollen Andersdenkende mit Gewalt bekehrt werden. Wirklich relevant sind diese Gewalttäter nicht, sondern die Frauen stehen im Mittelpunkt – ihr Überlebenskampf, ihre Solidarität, kleine Handlungen, durch die sie ihre Würde bewahren wollen.
„Mary“
Autor: Aris Fioretos Veröffentlichung: 19. Juli 2019 Seitenzahl: 352
Die Leidensgeschichte Marys erzählt Fioretos aus der Ich-Perspektive. Er beschreibt Tage des Schweigens und Tage der Schmerzen. Dabei tritt Mary immer und immer wieder aus sich heraus, beobachtet sich von außen, wenn die Grausamkeit überhandnimmt. Sie will überleben, um ihr ungeborenes Kind zu schützen. Doch als ihre Schwangerschaft sichtbar wird, gerät sie in ein unsägliches Dilemma.
Aris Fioretos Roman „Mary“ ist an keinen Ort gebunden und doch nimmt er Bezug auf wahre Gegebenheiten in Griechenlands Geschichte. Die Bezüge zu den Studentenprotesten 1973 und 1974 und das letztendliche Ende der Militärdiktatur im Sommer 1974 sind sehr deutlich. Die Gefängnisinsel, auf der sich Mary wiederfindet, rekurriert in vielen Momenten auf die Kykladeninsel Gyaros, die totgeschwiegene KZ-Insel.
Wer steckt dahinter?
Aris Fioretos wurde 1960 im schwedischen Göteborg geboren, hat jedoch einen griechischstämmigen Vater und eine österreichische Mutter. Er studierte Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Stockholm, in Paris und an der Yale University in den USA. 1991 promovierte er, um dann 2001 seine Habilitation zu verfassen. Auch heute unterrichtet er noch, widmete sich jedoch schon 1991 der eigenen Literatur.
Kurz und knapp oder dicker Schinken?
Aris Fioretos erzählt die Geschichte durch Marys lange Gedankengänge. Er versetzt sich ohne Mitgefühl oder Angst in die junge Frau und gibt ihre Gedanken wieder, während um sie herum Gewalt, Schmerz und Qualen herrschen. Diese sind häufig nur schwer zu verdauen. Doch er schreibt nicht nur über die Vergewaltigungen, Erniedrigungen und Elektroschocks, sondern gibt die fiktive Umgebung bis auf das kleinste Detail wieder: den Wind, das Meer, die Ratten und den zum Himmel stinkenden Müll. Doch Marys Gedankengänge finden nicht nur in der erzählerischen Gegenwart statt, sondern auch in der Vergangenheit. Sie handeln von der Liebe zwischen Mary und Dimos und dem schlimmen Elternhaus, das Mary versucht hat zu verlassen. Diese Ausführlichkeit aller Dinge, die Mary sieht, fühlt und denkt, führt dazu, dass das Durchlesen eine Weile dauern kann.
Für die Bahn, den Sessel oder den Pausenhof?
Für dieses Buch empfehle ich ein ruhiges Plätzchen daheim. Die Gräuel des Regimes setzen einem zu, bringen einen aber auch zum Nachdenken. Dafür ist die laute Bahn nicht gerade geeignet.
Auf einer Skala von 1 bis 10: Wie schwer ist es, das Buch wegzulegen?
Der Fluss von Marys Gedankengängen und das leichte Einfühlen durch die Ich-Perspektive machen es eher schwer, das Buch wegzulegen. Der Wechsel zwischen Ruhe und stillen Gedanken sowie den teilwesen schnellen, gewaltvollen Taten der Soldaten lässt die Spannung wachsen. Mary kann ihre Schwangerschaft nicht mehr lange geheim halten – schon alleine deswegen will man immer weiterlesen. Dabei stellt sich ein fieberndes Anfeuern für Mary und ihre Zukunft ein. Der Suchtfaktor liegt demnach bei einer 9.
Wem borgt man es nach dem Lesen als erstes?
Jedem, der deutsche und internationale Arbeitslager verkennt sowie Kriege und gewaltvolle Aufstände positiv sieht.
Lieblingszitat:
„Halten wir durch, weil wir glauben, dass es woanders besser, schöner, gerechter sein wird? Alle sehnen sich danach und sprechen darüber. Ich weiß nicht, ob ich mich weiter sehnen will, ich will dort sein können, wo ich bin.“ (S. 348)
In drei Worten:
Wichtig. Erschreckend. Poetisch.
Text & Teaserbild: Ema Jerkovic Coverfoto: dtv
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