Kinofeeling

Kinofeeling:
Berlin Alexanderplatz

Er möchte mehr als „Bett und Butterbrot“. Er möchte ein anständiges Leben führen. Er möchte gut sein. Vom Scheitern, Aufstehen und Weitermachen des geflohenen Westafrikaners Francis erzählt Burhan Qurbani in seinem Film „Berlin Alexanderplatz“. Ob das geglückt ist, weiß SPIESSER-Autor Vincent.

17. August 2020 - 10:32
SPIESSER-Autor Kalendermensch.
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Kalendermensch Offline
Beigetreten: 14.12.2015

Worum geht’s?

Burhan Qurbanis Film basiert auf dem 1929 erschienenen Großstadtroman „Berlin Alexanderplatz“ von Alfred Döblin. Francis, ein junger Westafrikaner, der über das Mittelmeer nach Europa geflüchtet ist, hat in Berlin nur ein Ziel: anständig sein. Sein Lebensideal kollidiert mit Reinhold, einem deutschen Drogendealer, der ihn mit der Aussicht auf ein würdigeres Leben aus dem Asylbewerberheim lockt. Doch Francis muss für ihn rauben, Drogen verticken, sich als „Gorilla“ beschimpfen lassen und abends fließt gefälligst der Champagner in den Nachtclubs. Francis erkennt nicht, dass Reinhold ihn nur tiefer in den Abgrund zieht. Als er auf die Prostituierte Mieze trifft, scheint er endlich angekommen zu sein. Er erfährt Liebe. Und zu allem Überfluss geht selbst diese Beziehung den Bach herunter.

Wer spielt mit?

In der Rolle des Francis ist Welket Bungué zu sehen. Nach seinem Studium stand er für mehrere portugiesische Produktionen vor der Kamera (u.a. „Corpo Eléctrico“, 2017). „Berlin Alexanderplatz“ ist seine erste deutsche Produktion. Francis‘ Antagonist Reinhold wird von Albrecht Schuch, bekannt aus „Bad Banks“ (2018) und „Systemsprenger“ (2019), gespielt. Jella Haase (u.a. „Fack Ju Göhte“, 2013) spielt Francis‘ Liebe Mieze.

Auf einen Blick
Action: ✪ ✪ 
Romantik: ✪ ✪
Humor: ✪ 
Niveau: ✪ ✪ ✪ 
Bildungsfaktor: ✪ ✪ ✪ 
Filmischer Augenschmaus?

„Berlin Alexanderplatz“ beginnt mit einer verwackelten Aufnahme des Mittelmeeres. Zusätzlich steht das Bild Kopf. In den Fluten versuchen zwei Menschen zu überleben. Über der Szene liegen ein hektisches Atmen und ein bedrohendes Brummen. Dann: Cut. Ein einzelner Mensch wird an ein Ufer gespült. Es ist Francis, der seine Frau in den Wellen verloren hat und sich vornimmt, in Berlin endlich ein anständiger Mensch zu werden. Dieses Intro hängt die Messlatte für den restlichen Film hoch. Zuerst einmal fühlt er sich an wie ein nächtlicher Vollrausch. Qurbanis Figuren sind allesamt wahnsinnig, nur Francis will loyal sein, ist ihnen aber gnadenlos unterlegen. Albrecht Schuchs Verkörperung des Reinhold ist brillant. Er ist ein moderner Mephisto mit gekrümmtem Rücken, einem unheimlichen Sexualtrieb und geprägt von der Gewieftheit, Francis in seine neurotische Welt zu verführen. „Berlin Alexanderplatz“ entwickelt sich zu einer düsteren Milieustudie im Neonlicht. Was Qurbanis Stil ausmacht, sind die atmosphärische Dichte und sein Wille, die Wucht der Berliner Unterwelt elegant zu inszenieren.

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Gibt’s was zu meckern?

An vielen Stellen wirkt „Berlin Alexanderplatz“ maßlos überfrachtet. Qurbani neigt zu Szenen, in denen bedeutungsschwangere Sätze geflüstert werden und pathosgetränkte Streicher dies zusätzlich betonen müssen. Was mich aber am meisten stört: die Untergrund-Welt scheint bei Qurbani hochpoliert zu sein; selbst jedwede Gewalt wirkt poetisiert. Die grelle, exzessive Ästhetik des Films steht dadurch im Widerspruch mit Francis‘ Leidensgeschichte. Dadurch bleibt die Psyche der Hauptfigur auf der Strecke. Stattdessen werden Klischees wie das der schwarzen, aggressiven Drogenbande ausgeschlachtet. Dass weiße Mafia-Opas die Migranten ausbeuten, muss Joachim Król in einem Cameo darstellen. Erzählt wird das äußerst verquer, was dazu führt, dass einige Handlungsstränge wie an den Haaren herbeigezogen wirken. Was wirklich schade ist – denn nach drei Stunden Filmdauer kennt man zwar die Probleme des Systems, ist aber genauso ratlos über etwaige Lösungsansätze wie zuvor.

Braucht man Taschentücher?

Wenn Qurbanis Film eines unbedingt will, dann emotional betören. Eine Packung auf Vorrat dabeizuhaben, kann also nicht schaden.

Mit wem angucken?

Mit jedem, der Interesse für den Stoff zeigt.


Kann die Liebe zwischen Francis und Mieze bestehen?
Was macht man danach?

Ich habe mir am Tag danach eine Dokumentation über Drogenhandel in Berliner Parks angeschaut. Döblins Originalroman will ich auch mal lesen. Angesichts der aktuellen Debatten gibt der Film einen guten Impuls, um über Fremdenfeindlichkeit und Perspektivlosigkeit von Asylbewerbern zu sprechen.

In drei Worten:

„Ich bin Deutschland.“
[Diesen Satz sagt Francis gegen Mitte des Films, als er sich zum ersten Mal in Deutschland Zuhause fühlt.]

Große Leinwand oder kleiner Bildschirm?

Für die vielen Totalaufnahmen eignet sich ein großer Bildschirm.

Mainstream oder Independent?

Die Frage hat mir schlaflose Nächte beschert. Jedoch: Mainstream. Die Idee, den Stoff für die Gegenwart zu adaptieren, ist zwar ambitioniert, aber leider erzählt sie wenig Neues und bedient sich einer massentauglichen Filmsprache.

Berlin Alexanderplatz

Regie: Burhan Qurbani
Darsteller: Welket Bungué, Albrecht Schuch, Jella Haase u. a.
Filmstart: 16.07.2020
Filmlänge: 183 Minuten
Genre: Sozialdrama
FSK: 16

 

Text: Vincent Koch

Bildmaterial: Sommerhaus/eOne Germany

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