Ein Buch zu einem Thema, das aktueller nicht sein könnte. „Jenseits des Meers“ erzählt von einer Flucht aus dem Bürgerkrieg in eine neue ungewisse Heimat. Ein Buch zwischen Hoffnung und Lügen, Freundschaft und Verrat. SPIESSER-Autorin Marie hat es für euch durchgeschmökert.
05. November 2015 - 09:26 SPIESSER-Autorin Missmarie.
Malik und sein Großpapa sind schon seit mehreren Tagen unterwegs. Doch sie sind nicht auf einem Familienausflug, sondern auf der Flucht. Nachdem Soldaten bei Malik zu Hause waren und der 10-jährige sich im Schrank versteckt hat, ist nichts mehr so, wie es mal war. An Stelle seiner Mutter kümmert sich nun sein Opa um ihn. Statt zur Schule zu gehen, suchen die beiden in dunklen Hinterhöfen nach einem Unterschlupf für die Nacht.
Die große Frage aber, die über ihrem Unterfangen schwebt, lautet: Haben die beiden genügen Geld, um an Bord des rettenden Schiffes zu kommen – das Schiff, das sie in ein anderes, sicheres Land bringen soll? Als die vermeintlichen Freunde des Großpapas die beiden dann auch noch bestehlen, werden Malik zwei Dinge klar: Er ist kein Kind mehr und kann niemanden mehr trauen. Denn selbst sein Opa scheint ihm nicht die Wahrheit über seine Mutter erzählen zu wollen.
Wer steckt dahinter?
„Jenseits des Meeres“ ist Jon Walters Erstlingswerk – zumindest im deutschsprachigen Raum. Lange Zeit hat der Autor als Fotojournalist gearbeitet, bis er eines Tages einen neuen Job brauchte. Er beschloss, Autor zu werden. Also meldete er sich kurzerhand bei einem Kurs für kreatives Schreiben an. Dort sind viele Teile von „Jenseits des Meeres“ entstanden, aber auch sein erstes Buch „Tell me when my light turns green“.
Die Idee zur Fluchtgeschichte kam Walter übrigens bei einem Film. In „Cry freedom“ gibt es eine Szene, in der eine Familie genau zwei Minuten Zeit hat, ihr Haus zu verlassen und zu fliehen. Walter überlegte, was wohl nach diesen zwei Minuten passiert ist – und genau hier setzt „Jenseits des Meeres“ an. Der Leser weiß nicht, wie und warum in Maliks Heimat ein Bürgerkrieg ausbricht. Er erfährt auch wenig über Politik und Fluchtgründe. Stattdessen präsentiert Walter zwei unterschiedlich alte Menschen, die irgendwie versuchen, mit der neuen Situation klarzukommen.
Kurz und knapp oder dicker Schinken?
Viel Platz gibt Walter seiner Fluchterzählung nicht. Zwar gehört das Buch mit seinen 317 Seiten eher zu den umfangreicheren Exemplaren, jedoch sind der zweite und dritte Teil im Buch kurzgehalten. Ich hätte mir gewünscht, noch mehr zu erfahren. Wie findet Malik die Schule, auf die er nach der Überfahrt geht? Was passiert mit seinen Freunden, die mit ihm übergesetzt haben? Was ist mit der Familie, die er auf dem Flüchtlingsschiff kennengelernt hat? Leider war für die Antworten auf diese Fragen kein Platz mehr im hinteren Teil des Buches.
Jenseits des Meeres
Autor: Jon Walter Verlag: Carlsen Veröffentlichung: 2. Oktober 2015 Seitenzahl: 336
Für die Bahn, den Sessel oder den Pausenhof?
Ein Buch für den Pausenhof oder zum Zwischendurchlesen ist „Jenseits des Meeres“ nicht. Beim Lesen braucht man Zeit zum Nachdenken. An einigen Stellen wählt Walter schonungslose Beschreibungen. Detailliert beschreibt er, wie dem Opa ein Zahn mit einer herkömmlichen Zange gezogen wird – nichts für schwache Nerven.
Das Thema ist aktuell und ernst: Wie geht es jemandem, der fliehen muss? Nach der Lektüre von „Jenseits des Meeres“ kennt man vielleicht eine Antwort auf diese Frage. Und am liebsten würde man das Buch einem „besorgten Bürger“ in die Hand drücken und sagen: Hier lies und dann sag mir, ob du immer noch nicht verstehen kannst, warum Menschen aus ihrer Heimat flüchten.
Auf einer Skala von 1 bis 10: Wie schwer ist es, das Buch wegzulegen?
Die Gespräche der Hauptfiguren machen deutlich, dass Walter einst Theaterwissenschaften studiert hat. Ihm geht es um die einzelnen Szenen, um Dialoge – weniger um Hintergründe und Nebengeschichten. Und so kommt es auch, dass sich ein Gespräch zwischen Malik und seinem Opa an das andere reiht. Dabei bleibt es nicht aus, dass sich die Gesprächsthemen wiederholen. So zum Beispiel auch Maliks ständige Frage nach seiner Mutter.
Durch diese Wiederholungen will keine Spannung aufkommen. Außerdem sind viele Handlungsschritte vorhersehbar. Wenn zwei Männer auftauchen und nach Geld fragen, wird dem Leser schnell klar, dass sie nicht mit den Protagonisten zusammenarbeiten werden. Opa und Malik wird das aber erst zehn Seiten später klar. Deshalb erhält das Buch auch nur eine drei auf der Nicht-Weglegen-Können-Skala.
Wem borgt man es nach dem Lesen als erstes?
Eigentlich ist „Jenseits des Meeres“ ein Jugendbuch. Meinem 12-jährigen Bruder würde ich das Buch aber eher nicht ausleihen. Dazu ist das Thema doch zu hart. Eher würde ich es jemandem leihen, mit dem ich nach der Lektüre noch lange über das Thema sprechen kann. Vielleicht wäre jemand mit Hintergrundwissen zu Flüchtlingen der richtige Gesprächspartner? Denn nach dem Lesen springt einen die Frage „Was ist mit den Flüchtlingen hier?“ geradezu an.
Lieblingszitat:
„Und bei allen wichtigen Unternehmungen gibt es Momente, in denen wir Dinge tun müssen, die wir lieber nicht tun möchten.“ (Seite 95)
In drei Worten:
realistisch, glaubhaft, hoffnungsvoll
Text: Marie Bornickel
Teaser-Foto: Lukas Höppner
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