Liebes Russland,
ich schreibe dir, denn ich weiß, wie befreiend das Schreiben für einen schweren Kopf ist. Es haben sich so viele Gedanken über dich angesammelt, die irgendwann sowieso heraus müssten. Ich schreibe dir auch, weil ich weiß, dass das der einzige Weg ist, sie mitzuteilen. Es wäre wohl kaum denkbar, meine Überlegungen auf eine andere Weise zum Ausdruck zu bringen, da alle anderen Alternativen hierzulande einen seine Freiheit kosten können – und davon ist uns leider schon so nicht sehr viel übriggeblieben. Ich nutze also die Möglichkeit, diesen Brief an dich im Ausland zu veröffentlichen, weil es bei dir keine Magazine mehr gibt, in denen man unbehelligt seine Erwägungen aussprechen kann. Ich sehe mich ebenso genötigt, in einer Fremdsprache zu schreiben, weil deine Gesetzeshüter immer aufmerksam bleiben und kein Bild, keine unbedachte Aussage, nicht mal ein Meme im Internet außer Acht lassen. Erfreulicherweise können sie in aller Regel keine Fremdsprachen, was dir und mir ein wenig Spielraum verschafft, in dem wir einen kleinen Gedankenaustausch wagen können.
Dieser Text ist der erste aus einer Reihe von Artikeln, die in Zusammenarbeit mit SPIESSER-Autorin Marie Robinski entsteht. Marie lebt und arbeitet derzeit in Russland und unterstützt die russischen Gastautorinnen und Gastautoren bei der Erstellung und Veröffentlichung von Artikeln auf Deutsch. Viele der Autorinnen und Autoren planen ein Studium in Deutschland zu absolvieren.
Der nächste Artikel folgt Anfang Januar 2020!
Einen gewissen Gesetzeshüter, der Deutsch kann, gibt es allerdings, aber er dürfte ungeheuer beschäftigt sein, da du seinen Händen mittlerweile zu entgleiten scheinst. Er muss noch viele Arreste, Durchsuchungen, Verhöre und Befragungen in die Wege leiten, so ein beschäftigter Mann hat bestimmt keine Zeit für sowas hier.
Sämtliche deiner Informationsquellen befinden sich im Besitz derjenigen, die an der Macht sind. Zum Glück kann man sich, wenn auch nicht ohne Risiko, immer noch ins Internet verkriechen und sich gegenseitig über verbotene Sachen austauschen. Jedoch beschleicht mich das Gefühl, als wäre das schon in nächster Zukunft nicht mehr möglich. Diese Machtträger verabschieden Gesetzte wie am Fließband und jagen dich somit in einen immer enger werdenden Käfig, wo du nach Luft ringen musst. Es tut mir leid, dass du derzeit all diese Strapazen erfährst.
Ein weiterer Grund, warum ich mich zum Schreiben dieses Briefes entschlossen habe, ist, dass unsere Zeit zusammen zur Neige geht. Ich verlasse dich. So traurig das auch klingen mag, aber ich kann bei dir nicht mehr länger bleiben. „Du hast mich angezogen, ausgezogen, großgezogen“ (singen AnnenMayKantereit in „Oft gefragt“, Anm. d. Red.) und auch viel gegeben, wovon ich geprägt wurde und was mir keiner jemals nehmen kann. Du musst mich jetzt aber fliegen lassen, damit ich meinem Weg weiter folgen kann, der mit deinem durch die herrschenden Umstände leider nicht mehr übereinkommt.
Hier findet keine Auswanderung statt, sondern Evakuierung. Ich weiß, es gibt viele wie mich und du beginnst dich langsam allein zu fühlen, doch du musst das nicht, denn wir sind mit dir eng verbunden und tragen das Leid, das du empfindest, in uns mit. Wir sind alle in der Welt verstreut, weil wir vom alltäglichen Leben bei dir schlichtweg nicht länger erstickt werden wollten. Das ist keine Metapher, es ist wirklich schwierig, bei dir zu atmen. Die Luft beißt die Lunge bei jedem Atemzug, der Wind pustet den Straßendreck ins Gesicht und lässt die Augen tränen, als wenn es nicht schon genug andere Anlässe dazu gäbe. Die Straßen sind längst zu einer zerrütteten Dauerbaustelle geworden, auf der es von Abfällen wimmelt. Der Boden hat viele Löcher, in die man besonders nachts reinfallen und sich schwer verletzten kann.
Vor meinem Fernster wurde kürzlich geschossen, meine Lehrkraft versprach mich wie einen Käfer zu zertreten, ich habe nachts zehn Stunden für 150 Rubel (ca. 2,10 Euro) pro Stunde arbeiten müssen und man wird angerempelt, wenn man durch die Straßen meiner Stadt läuft. Okay, hier muss ich mal Halt machen, tut mir leid, ich bin bei der Beschreibung meines Alltages auf den Geschmack gekommen, aber das war nötig, um dir zu zeigen, was mich ins Ausland treibt.
Es gibt natürlich solche Regionen auf der Welt, wo die Menschen ein verhältnismäßig schlechteres Leben führen, das verstehe ich. Dieser Gedanke hilft mir, mich im Alltag durchzuschlagen, weil ich weiß, dass ich wenigstens eine Wohnung und ein warmes Bett habe. Es gibt solche Menschen, die nichts zu nagen und zu beißen haben, während ich jederzeit einkaufen gehen und mir etwas gönnen kann. Ich werde dich und alles Gute, was du mir mitgegeben hast vermissen und bedauere, dass wir uns nun trennen müssen, aber du kannst jetzt sicher selbst einsehen, dass du kein angenehmer Ort mehr bist. Warst du es eigentlich irgendwann?
Mein Russland, ich möchte nicht, dass der Brief sich hinzieht. Ich habe dir meine Gedanken und den Grund für meine Entscheidung mitgeteilt und hoffe, du kannst sie verstehen. Ich wiege mich auch in kleiner Hoffnung, dass es dir eines Tages gut geht. Deine Geschichte ist eine Aneinanderreihung von grausamen Rückschlägen und es tut mir Leid zu bezeugen, wie sie ihren Fortgang nehmen. Es tut mir auch leid, dass ich mich über diesen Prozess nur hinwegsetzen kann, statt mich ihm entgegenzusetzen und zu kämpfen. Ich habe nur ein Leben und kein zweites. Mit diesem Brief stelle ich unsere Beziehung auf unbestimmte Zeit ein und wünsche dir Genesung und Veränderung.
Mit Liebe,
Ivanuschka*
*Der Autor möchte aus den im Text genannten Gründen anonym bleiben.
Teaserbild: Photo by Ilia Schelkanov on Unsplash