Schule beginnt in Deutschland viel zu früh. Schlafforscher fordern: Mathe nicht vor 11 Uhr. Erste Politiker und Schülersprecher pflichten ihnen bei. Gehandelt aber hat noch niemand.
Für Max, 17, ist Aufstehen Matratzensport, die erste und schwerste Übung des Tages. 5.20 Uhr in Waldorf, Nordrhein- Westfalen, Hinterwald um diese Zeit kräht hier kein Hahn. In labberigen Jeans schlurft Max in die Küche, das Kurzhaar steht, wie es soll, die Lider dagegen wollen anders. Beim Brotschmieren knurrt Max nur, mehr noch als sein Golden Retriever. Fiete springt bereits durch die Küche. Zum Bellen aber ist selbst er zu müde. Max Bruder kommt rein. Stumm studiert er die Zeitung. Sie ist von gestern. Der Zeitungsausträger war so früh noch nicht da, aber Waldorf liegt ja auch in der Eifel an der Grenze von NRW zu Rheinland-Pfalz. Hier sind die Wege länger als die Leitung von Max. Der kommt einfach nicht auf Trab.
"Aufstehen ist hart. Aber in sieben Jahren Gymnasium habe ich mich daran gewöhnt", sagt er. An der Bushaltestelle stehen sieben andere, sie frieren stumm, komisch kalter Morgen. Der Schulbus kommt erst drei Straßenecken lang akustisch, dann optisch durchs Dorf, Max setzt sich in die vorletzte Reihe, lehnt sich mit dem Kopf ans Fenster und schaut raus. Fahrschüler nennen sie in der Eifel Max und die anderen im Bus, denn das sind die, deretwegen man sich in Deutschland gerade um einen späteren Schulbeginn zu zanken beginnt. Erste Politiker wagen sich vor und fordern, dass es später losgehen solle. Vor allem tun das aber die Schlafforscher. Denn das, was Max hier jeden Morgen erfahren muss, überfährt ihn. Unchristlich früh aufstehen, voll aus dem Tiefschlaf rasseln, in den Tag holpern. Eine Tortur, jeden Tag aufs Neue, eine Pennergeneration im Pendelverkehr. Mieser geht s nur dem Busfahrer. Der gibt allmählich gutes Tempo vor. Jedes Dorf macht den Bus ein wenig voller, kleine Mädchen tragen Haarklammer und Zopf, große Mädchen Nenafrisur und Pickel so viel man eben aus sich machen kann zwischen spätest möglicher Aufstehzeit und Bushaltestellensprint.
Der Bus quält sich im zweiten Gang die Berge hoch, im Affenzahn zähneknirschend wieder runter, Serpentinen ordnen Mageninhalte neu. Max könnte jetzt Hausaufgaben machen. Aber wenn ich mir die eine Stunde später noch mal durchlese, sehe ich meist, dass ich morgens wirklich nichts auf die Reihe kriege , sagt er. Sein jugendlicher Schlafrhythmus rebelliert. In der ersten Schulstunde bin ich immer wahnsinnig müde. Dann geht es ein paar Stunden lang, und in der Fünften kommt der totale Durchhänger, da kann ich die Augen kaum noch offen halten. Nachmittags ist Max oft so platt, dass er sich zwei Stunden hinlegt. Und dann kann er abends wieder nicht einschlafen. Immer das gleiche falsche Spiel. Die moderne Gesellschaft schläft redlich spät und deutlich zu wenig. Eine Lösung?
"Am liebsten wäre mir, die Schule würde erst um neun Uhr anfangen",
sagt Max. So wie in Japan. Dort werden kurz vor neun die ersten Zeichen gesetzt. England fängt etwa zur gleichen Zeit an. Alexander Blau, Schlafforscher an der Charité Berlin, weiß aus eigenem Leid, dass das sehr vernüftig ist. Als ich selbst noch Schüler war, hatte ich immer ab sieben Uhr Unterricht. Das war so früh, dass ich kaum optimal leistungsfähig war in den ersten Stunden. Zu etwas gebracht hat er s trotzdem.
Laut Blau spricht alles für den späteren Schulbeginn:
"Frühestens acht Uhr, besser gegen neun Uhr sollte es mit dem Unterricht losgehen."
Dass die Mehrheit der deutschen Schüler genau das fordert, belegt eine repräsentative Forsa-Umfrage im Auftrag von SPIESSER. 93 Prozent der 14- bis 16-Jährigen sprechen sich gegen einen Schulbeginn vor acht Uhr aus, bei den 17- bis 19-Jährigen sind es immer noch 83 Prozent. Für den üblichen Schulstart gegen 7.30 Uhr sind dagegen nur fünf beziehungsweise neun Prozent. Es dürfte nicht besonders schwer sein, das zu verstehen. Die derzeit in Deutschland gängigen Schulanfangszeiten rauben zwei Stunden Nachtschlaf, schätzen Experten. Das liegt vor allem am Biorhythmus. Jugendliche sind gegen Abend wach wie nie, können vor Mitternacht kaum einschlafen, sollen aber im Extremfall fünf Stunden später schon wieder raus. Das hindert am Lernen.
"Schüler sind sogenannte Spättypen. Das heißt: spät ins Bett, spät raus", sagt Blau. Acht Stunden Schlaf müssen einfach drin sein, da sind sich Deutschlands Schlafforscher einig. Das geht aber nur, wenn der Schlaf in den Morgen hineinreicht. Alexander Blau: Richtig gute Performance schaffen Jugendliche erst ab 11, 12 Uhr mittags. Dann erst sollte Mathe unterrichtet werden. Der Schultag sollte stattdessen mit Leibesertüchtigung angegangen werden.
"Wenn morgens um 7.30 Uhr eine Arbeit geschrieben wird, fällt die Note bei gleichem Wissensstand eher schlechter aus als mittags", sagt Blau
selbst Frühaufsteher wider Willen. Um sieben Uhr steigt er morgens aus den Federn. Künftig wohl oder übel auch mal etwas eher: Seine Tochter ist gerade in die Schule gekommen. Ab sofort wird der Kampf gegen fiese Schulzeiten ein ganz persönlicher. Das dürfte selbst die konservativsten Eltern überzeugen: Aufstehzeiten jüngerer Schüler sollten an das Berufsleben der Eltern angepasst werden. Die kommen für gewöhnlich erst gegen neun in die Pötte. Wenn also die Eltern eigentlich bis nach acht weitergrunzen könnten,
müssen sie im Alltag längst um des Kindes willen durchs Haus springen und Stullen schmieren. Günther Oettinger, Baden- Württembergs Ministerpräsident und sonst eher zaghafter Modernisierer, hat den späteren Schulbeginn schon 2006 gefordert. Damit aber immerhin eine Welle losgetreten. Prominente Wissenschaftler wie Alexander Blau und sein Regensburger Kollege Jürgen Zulley sind in ihr die Schwimmflügel. Mancher Politiker schlüpft da nun gerne rein.
"Dass ein späterer Schulbeginn medizinisch und lernpsychologisch sinnvoll ist, belegen alle wissenschaftlichen Studien", sagt Ann Anders, bildungspolitische Sprecherin der Frankfurter Grünen. Die FDP in München beantragte eine Gesprächsrunde zum Thema "Schule um 9" im Münchner Stadtrat. Niedersachsens CDU-Fraktionsvorsitzender David McAllister forderte gleich eine Orientierung an den Anfangszeiten des britischen Schulsystems. Aber nur zu reden, das reicht eben nicht. Vielleicht sollte das auch Deutschlands Schülervertretern mal einer sagen. Christopher Schuldes, Chef der Bundesschülerkonferenz, muss um 7.40 Uhr in der Schule sein und ist da noch verdammt müde.
"Viele Klassenkameraden sind um die Zeit noch nicht auf der Höhe", sagt er. Der 18- Jährige besucht die Gesamtschule im hessischen Seeheim-Jugendheim. Viel lieber wäre er noch in England, wie nach der Zehnten für ein Jahr. Dort begann der Unterricht um neun Uhr. Ich sehe da durchaus Potenzial bei den Ganztagsschulen , sagt Christopher.
Obwohl viele wissen, dass die Schule später losgehen müsste: Die Politiker sperren sich. SPIESSER hat in allen Kultusministerien nachgefragt. Grundsätzlich habe sich ein Schulbesuch um 8 Uhr herum bewährt (Hessen), ein früher Start in den Tag gehöre in vielen Familien zum Alltag (Rheinland-Pfalz) und ein generell späterer Schulbeginn sei keine Lösung kurzum:
"Die Schulanfangszeiten haben sich für eine gute Vereinbarkeit von Familie und Beruf bewährt" (Hamburg). Der Kultusminister Sachsen-Anhalts hält nicht viel von dieser Forderung, auch wenn ich grundsätzlich dafür Verständnis habe. Wenn man am Abend rechtzeitig ins Bett geht, kann man morgens um 6 Uhr bereits ausgeschlafen sein. Sein Kollege aus Niedersachsen sieht die Sache ähnlich: Der derzeitige Regelschulbeginn gegen acht Uhr hat sich über Jahrzehnte bewährt. Ministerien, konservative Eltern, Lehrer Wähler also hätten gerne, dass alles so bleibt. Warum sollte es Jugendlichen heute auch besser gehen als ihnen damals. Goethe und Kant mussten auch früh aufstehen , schreibt eine Mutti ins Online-Forum des Lehrerfreund - Blogs. Was sie vergisst: Vor 240 Jahren war Goethe 18. Damals gab es nicht: Kino, Kondome, elektrisches Licht. Kerzenlicht macht auch schnelle Hirne früher müde, Lebensrhythmen ändern sich, und der Goethe von morgen hat bitteschön auch acht Stunden schlafen zu dürfen. Immerhin, es gibt mittlerweile gesetzlichen Spielraum in einigen Ländern. Schulen aus Niedersachsen, Thüringen, Baden-Württemberg, Hessen und Hamburg können selbst entscheiden, wann am Morgen losgeschult wird. Andere dagegen, Berlin zum Beispiel, setzen Grenzen: Zwischen 7.45 und 8.15 Uhr hat die erste Stunde in der Hauptstadt zu schlagen.
Fortschrittliche Schulen nutzen den vom Kultus gesetzten Spielraum schnipsgummizerrend. Die Rosa-Luxemburg-Oberschule in Berlin-Pankow hat im Schulprogramm schon den Willen zu Änderungen festgeschrieben:
"Von vielen Lernpsychologen wird seit langem bemängelt, dass ein Unterrichtsbeginn um acht Uhr für die Kinder und Jugendlichen deutlich zu früh und selbst ein späterer Beginn von nur einer halben Stunde entlastend sei", steht da. Nun geht s erst 8.20 Uhr los. Dass der spätere Schulstart tatsächlich zu besseren Schulergebnissen führt, ist ebenfalls längst bewiesen.
Spätstarterländer wie Japan lagen schon beim Pisatest in Fächern wie Mathe und Naturwissenschaften weit vor Deutschland. Den direkten Bezug zwischen Aufstehzeit und Lernerfolg konnten dann Forscher von der Northwestern University in Evanston bei Chicago herstellen. Schüler der High School von Evanston mussten Computer- Vitalitätstests machen und Tagebuch über ihre Leistungsfähigkeit führen. Das Ergebnis: Morgens wird s nichts. Die Lösung, so die Forscher, wäre ein späterer Tagesstart. Über diesen Vorschlag sollten wir alle mal eine Nacht schlafen.
Text: Julia Kunze, Martin Machowecz, Cornelius Pollmer, Rico Valtin
Fotos: André Forner
ich bin auf einem bild xD