SPIESSER Bildungsweg

Große Menschen unerwünscht

Das Ende ist nah: Kurz vor Schulschluss fühlt sich Gustav richtig überflüssig. In Freistunden wird er abgestellt wie ein Sofa. Flucht ist die einzige Lösung.

15. March 2012 - 17:55
von SPIESSER-Autor Gustav.
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Gustav Offline
Beigetreten: 26.04.2009

Heute ist es wieder soweit. Ich habe eine Freistunde. Wohin mit mir? Das Selbstlernzentrum (kurz: SLZ) zieht mich magisch an. Hier stehen Computer, die nach Zufallsprinzip auch über einen Internetanschluss verfügen. Hier kann ich TankTrouble zocken oder, wenn gerade so ein pädagogischer Kampfhund  vorbeistiefelt, irgendwas bei Wikipedia recherchieren. SLZ steht nämlich eigentlich für: Statt Lernen zocken.

Raus mit der Vernunft

Heute habe ich kein Glück. Eine Siebenerklasse will im Politik-Unterricht irgendwas mit Bundespräsidenten zocken. Kampfhund Herr Ahmed hat das SLZ dafür geblockt. „So, raus jetzt hier!“, keift er uns an.

„Aber ... aber ... wir wollten doch...“, sagen wir. Was darf es diesmal sein? Wir wollten doch arbeiten? Da wären wir hier falsch. Die Oberstufe darf im SLZ nur arbeiten, wenn es zufällig mal nicht geblockt ist. Da können es drei Siebener sein, die „arbeiten“ wollen: Wir sind immer in der Unterzahl. Das nennt man dann Autoritätsmissbrauch seitens der Lehrerschaft. Das nervt nach 13 Jahren langsam.

„Warten Sie kurz“, antwortet mein Kumpel, „noch ein Tor gegen David, dann geben wir den Rechner frei!“ Ohne die Gelegenheit den Highscore zu speichern ziehen wir davon, der Peitschenknall klingt noch in unseren Ohren nach. Und dann? Eine Freistunde kann sich hinziehen, wenn man auf einem Stuhl sitzt und akribisch die Löcher in der Wand untersucht. Oder der Wasserspender gerade Kohlensäure-Defizit aufweist und erst vom Hausmeister in Ordnung gebracht werden muss, bis wir – mit den Hufen scharrend – endlich wieder zapfen können.

Als ich klein war, da waren Freistunden oberaffentittengeil. Die ganze Klasse hat gebrüllt, als die frohe Botschaft einer (!) Freistunde auf dem Vertretungsplan bekanntgegeben wurde. Mit unserer Euphorie haben wir damals frustrierte Oberstufenschüler und Lehrer genervt.

Heute hasse ich Freistunden. Es ist kaum zu glauben, dass sie mich schon so weit haben, aber es ist mein Ernst. Freistunden bedeuten für mich, Zeit abzusitzen. Wertvolle Zeit, die ich außerhalb der Schule sinnvoller verbringen könnte. Einen Oberstufenraum gibt es nicht, das SLZ ist, wie gesagt, dauergeblockt von Hexen und Kampfhunden, und auf dem Flur hat sich auch keiner mehr was zu sagen. Freistunden sind vergleichbar mit dem Besuch eines Wartezimmers. Man sitzt, man starrt, ab und zu erfährt man etwas über Queen Elizabeth II, man wartet, man verreckt.

Der Ruf der Freiheit

Je näher ich dem Tag X komme, umso mehr drängt sich die Frage auf, worüber ich mir hier Gedanken mache. Leute, demnächst ist Schluss damit! Dann besteht mein Leben vorerst aus Freistunden. Ich lerne zwar für die Abi-Prüfungen, aber ausschlafen kann ich wenigstens – und chillen wie ich es will. Ich werde nicht mehr zum Chillen gezwungen. Hört ihr den Ruf der Freiheit?

Endspurt Abi

Im Mund noch den fernen Geschmack des Mutterleibes, vor den Augen die aufregende Zukunft: Gustav ist bald raus aus der Nummer „Schule“. Kurz vorm Abi erzählt der NRW-Gesamtschüler in Blogform von seinem Endspurt in die Freiheit – und was sonst so los ist in der gymnasialen Oberstufe.

Auch die Kampfhunde können dann bellen, so laut und so viel sie wollen. Sie können kleine Neuntklässler ärgern oder die Siebener hin- und herscheuchen, den ganzen Tag lang. Sie nerven mich nicht mehr. Ihr wollt mich loswerden? Ihr werdet mich los! Aber ich gehe selbst – ich werde nicht gegangen!

Schule ist etwas für jüngere Menschen. Die sollen ruhig lernen, wie das Jäger-Opfer-Prinzip in der Realität funktioniert und dass Pädagogik oft ein Synonym für unfaires Verhalten ist. Irgendwann sind die so alt und überflüssig wie ich, wie ein ausgesessenes Sofa, reif für den Abgang. Ich bin froh, so alt und groß und weise zu sein. Aus der Langeweile entsteht Motivation, aus Aggression das Streben nach Verbesserung. Ich spüre es schon, die Zeit ist gekommen. Wir alle sind jetzt überflüssig hier. Es ist Zeit für etwas Großes.

Es klingelt. Die nächste Freistunde beginnt. Zeit für einen Gang zum Wasserspender.

Wie überflüssig sind Studenten? Julia, fühlst du dich erwünscht? Erzähl es uns ... nächste Woche wieder auf SPIESSER.de

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