Die Tür geht auf, plötzlich ist sie da: Vollzeit-Bundeskanzlerin und Einmal-
Vertretungslehrerin Angela Merkel. Eben hat sie sich noch durch die jubelnden Schüler vor dem Gebäude gekämpft, doch jetzt steht die eigentliche Herausforderung an: Die 25 Zwölftklässler des Leistungskurses Geschichte blicken ihr erwartungsvoll entgegen.
MERKEL Guten Tag! Man hat mir gesagt, als erstes solle ich einmal meinen Namen an die Tafel schreiben, damit Sie wissen, wie man mich anspricht. Die Bundeskanzlerin geht schnell die wenigen Schritte zur Tafel und schnörkelt ihren Namen an. Sie können „Frau Merkel“ zu mir sagen. Wir machen heute Geschichtsunterricht und es geht um den Mauerbau. Heute ist der 13. August, am 13. August 1961 ist die Mauer gebaut worden. 1961 war ich sieben Jahre alt. An seine Zeit als Siebenjährige hat man ja nicht so viele Erinnerungen; ich weiß nur,
dass meine Eltern und alle unheimlich traurig waren. Nun wollen wir anfangen,
indem Sie aufmalen, wo die Mauer überhaupt war. Wer hat Lust, hier vorne einmal auf der einen und einmal auf der anderen Karte zu zeichnen?
Freiwillige vor: Lea und Miriam trauen sich an die Tafel und zeichnen ihren „Da war die Mauer“-Tipp ein. Von Frau Merkel gibt es dafür ein „Guter-Versuch- Schmunzeln“, als sie die Tafel aufklappt und so die Lösung freilegt.
Na ja, hier im Westen haben wir noch eine kleine Ecke vergessen. Aber das macht einen sehr guten Eindruck. Können Sie sagen, warum die DDR sich zu diesem Mauerbau entschlossen hat? Bitte schön, Levon.
Levon Ich habe das so gelernt, dass in den jeweiligen besetzten Vierteln, vor allem im sowjetisch besetzten Gebiet im Osten, viele Menschen – fast drei Millionen...
MERKEL Sowjetische Besatzungszone hat man das genannt.
Levon Besatzungszone, ja – dass da fast drei Millionen Menschen in den
50ern und auch schon vorher geflohen sind. Als das zunahm wurde entschieden,
eine Mauer zu errichten.
Wo verlief die Mauer durch Berlin? Angeblich
hat die Kanzlerin einen Fehler an der Tafel nicht
erkannt – und kam dennoch als Lehrerin gut an.
MERKEL Ja, die Fluchtbewegung ist immer stärker geworden. Und es war praktisch so, dass die innerdeutsche Grenze zwischen der sowjetischen Zone und den anderen drei Zonen schon etliche Jahre lang nicht mehr offen war. Dann hat man zu diesem äußersten Mittel gegriffen. War jemand von Ihnen schon einmal an der Gedenkstätte Bernauer Straße?
Laura Wir waren in dem Turm drin.
MERKEL Das Interessante ist: Bernauer Straße, da waren die mutigsten Leute. Unter Einsatz des Lebens haben die Menschen dort in letzter Minute noch versucht aus ihren Häusern zu springen. Könnten Sie sich vorstellen, dass Sie damals auch gesprungen oder geflohen wären?
Tilmann Ich glaube, das Leben wäre mir dann doch zu kostbar, als dass man das aufs Spiel setzt. Ich kann mir das eigentlich nicht richtig vorstellen.
Milena Haben Sie es jemals versucht?
MERKEL Nein, ich habe es nicht versucht, weil auch ich Sorge hatte, also Angst. Aber ich habe sehr oft theoretisch mit meinen Eltern darüber gesprochen, denn für den Fall, dass es einmal ganz schlimm werden würde, konnte man ja auch einen Ausreiseantrag stellen. Ich kannte Leute, die zumindest Ausreiseanträge
gestellt haben. Ich kannte persönlich niemanden, der in meiner Zeit selbst die Flucht geschafft hat. Was könnten Gründe dafür gewesen sein? Was war im Osten so viel schlechter, dass man einen Grund haben konnte zu sagen „Ich setze mein Leben aufs Spiel“?
Max Zum Beispiel, dass einfach alle Leute so extrem von der Staatssicherheit überwacht wurden.
Von der Seite kommt ein Kichern – von Kora. Das bleibt von der Vertretungslehrerin nicht unbemerkt.
MERKEL Sie haben eben so gelacht. Warum?
Kora Nur wegen aktueller Sachen.
MERKEL Wegen der NSA? Na ja, nur damals war es so... Kora unterbricht Frau Merkel hastig. Ihr scheint plötzlich wieder einzufallen, dass die Bundeskanzlerin vor ihr steht.
Kora Sicherlich war das anders!
MERKEL Damals – ich wollte gerade den Unterschied nennen – war es so:
Wenn der Vater etwas gemacht hat, dann durfte die Tochter schon nicht
aufs Gymnasium gehen. Es wurde also die ganze Familie sozusagen in Sippenhaft genommen. Wenn man sich in der DDR geistig frei äußern wollte, seine Meinung sagen wollte, war es immer ein Ritt auf der Rasierklinge.
Hat da jemand „NSA“ gesagt? Tatsächlich – es war
Angela Merkel selbst! Und sie wird doch
tatsächlich von einer Schülerin unterbrochen...
Martha Gab es für Sie noch weitere Einschränkungen in der DDR oder eigentlich nicht?
MERKEL Doch, na klar! Durch diese Mauer und dann noch die innerdeutsche Grenze war unsere Reiserichtung total bestimmt. Dann ist man als Jugendlicher halt jedes Jahr mit dem Rucksack und einem Zelt gereist, und in den meisten Jahren habe ich die gleiche Tour – nach Prag, nach Bratislava – gemacht. In seinem Freundeskreis konnte man sich aber gut unterhalten, und man konnte sich auch mit den Kollegen unterhalten, aber wie man hinterher gesehen hat, hatte man in jeder Arbeitsgruppe mindestens einen Stasi-Spitzel, der alles aufgeschrieben hat – also mit wem man Mittagessen geht, wo man abends hingeht oder ob man irgendwelche Kirchenkontakte hat. Das wurde alles fein säuberlich aufgeführt. Es gab ein Klassenbuch, darin stand hinter dem Namen jedes Kindes, aus welcher Schicht oder Klasse die Eltern kommen. „A“ stand für Arbeiterklasse, „I“ für Intelligenz. Wenn wir eine Vertretungsstunde hatten, haben manche Lehrer gesagt – ich hieß damals Kasner: „Kasner, Angela, I, aufstehen! Was ist ihr Vater? Jetzt stehen einmal alle auf, die zur Christenlehre gehen.“ Dann kommt wieder einer und fragt: „Was ist dein Vater?“ „Pfarrer!“ Einmal habe ich zu meiner Nachbarin gesagt: „Ach, ich bin wieder dran! Ob ich einfach Fahrer sage, damit er das nicht richtig mitkriegt?“ Da hat meine Nachbarin gesagt: „Da steht doch ‚I‘. Es weiß doch jeder, dass das für Intelligenz steht.“ Na gut, dann habe ich wieder „Pfarrer“ gesagt. Das war die Atmosphäre, weshalb manch einer gesagt hat: Ich kriege hier keine Luft mehr, ich muss hier raus. Woran sieht man heute noch, ob man in Ost- oder in Westberlin ist?
Dario Also möglicherweise an Gebäuden. Wenn man nach Ostberlin fährt, dann sagt man: Das ist typisch Ostbau.
Levon Vielleicht sieht man es hin und wieder auch an den Wohnungen
selbst. Man merkt oft, dass die eigenen Bedürfnisse der Umgebung angepasst werden und nicht anders herum. Also der Osten hat sich selbst so eingerichtet, wie die Umgebung es zugelassen hat.
Vertretungslehrerin Angela Merkel – mal mit vollem
Körpereinsatz gestikulierend, mal in sich gekehrt.
MERKEL Zum Teil hing es ja auch davon ab, was man bekommen hat. Angela Merkels Arme wirbeln beim Reden durch die Luft, die anfängliche Ich-hab-die-Hände-vor-der-Brust-ich- bin- eine-Kanzlerin-Haltung ist passé. Als ich mich von meinem ersten Mann getrennt habe, brauchte ich eine Wohnung. Da hat mir jemand den Tipp gegeben: in der Templiner Straße. Dann bin ich dort in die leer stehende Wohnung eingebrochen mit einem Schlüssel – nein, mit einem Schlüssel eben nicht. Ich habe das Schloss aufgebrochen. Als ich das erste Mal in die Wohnung komme und das Fenster in der Küche aufmache, schreit jemandaus einem anderen Teil des Hinterhauses: „Sind Sie jetzt die Neue?“ Eines Tages fand ich in meinem Briefkasten einen Zettel: Alle müssen ausziehen
und bekommen neue Wohnungen angeboten. So bin ich dann in die Schönhauser Allee 104 gekommen. Das war dann meine erste Wohnung mit
Gasheizung und einem Bad.
Während Frau Merkel von ihren Einbruchtricks berichtet, lockert die Stimmung merk(e)lich auf.
Levon In welchem Aufgang in der 104 haben Sie gewohnt?
MERKEL Haben Sie da auch gewohnt?
Levon Ich wohne da immer noch.
MERKEL Gibt es da vorne noch einen Gemüseladen?
Levon Nein, da gibt es einen Döner.
MERKEL Dann grüßen Sie mir einmal die 104. Wer merkt sonst noch Unterschiede zwischen Ost und West?
Alex Bei unserer Generation beziehungsweise bei mir ist es so, dass einen das Elternhaus so ein bisschen prägt. Meine Eltern sind halt totale... nicht totale Ossis, aber sie sind im Osten aufgewachsen und waren dann auch immer noch so ein bisschen geprägt gegen den Westen.
MERKEL Und woran macht sich das fest?
Alex Bestimmte Äußerungen gegenüber Leuten aus dem Westen – zum Beispiel, dass sie eingebildet sind oder denken, sie wären etwas Besseres.
MERKEL Sonst noch Auffälligkeiten?
Max Mir fällt noch etwas zum Verkehr ein. Mein Vater regt sich immer über die Ampelschaltungen auf, die im Osten sehr seltsam sind. Im Westen kann man einfach durchfahren.
MERKEL Eine „grüne Welle“ sozusagen?
Max Ja, genau.
MERKEL Das liegt vielleicht mehr am Stadtrat als am Osten.
Max Vielleicht liegt es auch am Osten, dass die Ampeln immer eher rot sind.
MERKEL Spielt es in den Unterhaltungen zwischen Ihnen eine Rolle, woher die Eltern kommen, welche Lebenserfahrung sie haben?
Judith Eigentlich betrifft uns das – meiner Meinung nach – überhaupt nicht mehr. Ich persönlich nehme das gar nicht mehr wahr, ob ich mich in Ostberlin oder in Westberlin befinde. Neulich hat mich einmal eine Frau darauf angesprochen, dass die Jugend von heute ja gar nicht mehr wisse, wo Ost und West gewesen ist. Wir wissen es schon noch. Aber es betrifft uns nicht mehr. Wir müssen uns ja nicht mehr wirklich Gedanken darüber machen. Denn glücklicherweise ist es vorbei.
MERKEL Glauben Sie, dass es wichtig ist, dass man sich damit noch beschäftigt? Oder ist das eher lästig?
Dario Ich bin immer der Meinung, dass es wichtig ist, Sachen aufzuarbeiten, weil das ein Teil der Geschichte ist, die auch uns betrifft und das unser Hintergrund ist.
Lena Man kommt ja gar nicht darum herum. Wir sind jetzt die Generation, deren Eltern das zum großen Teil miterlebt haben. Es ist doch klar, dass sie uns mit ihrem Gedankengut erziehen. Meine Mutter kommt zum Beispiel aus dem Osten, aber sie war damit total unglücklich. Sie erzieht mich jetzt natürlich so, dass ich mich darüber freue, dass die Mauer weg ist.
MERKEL Ich glaube, dass die Mauer weg ist, darüber sind fast alle froh – egal, ob sie den Westen oder den Osten gleichsam als Ideal gesehen haben. Es ist ja auch nicht so, dass wir heute in einer Welt leben, in der immer alles möglich ist. Bei uns ist manches sicherlich auch nicht einfach, aber insgesamt doch sehr viel
besser als es zu Zeiten der DDR war. Gibt es noch eine Abschlussfrage an mich? Ich habe Sie jetzt einiges gefragt. Ich möchte jetzt nicht weggehen und Sie sagen: „Ich habe die ganze Zeit noch etwas fragen wollen.“
Uuuuuh, das war unvorsichtig. Jetzt wird losgeplaudert: über das Wohnen in
der DDR und wie genau es Frau Merkel als Vertretungslehrerin an diese Schule
verschlagen hat. Doch jede Vertretungsstunde geht zu Ende – diese mit einem
letzten „Dann wünsche ich Ihnen am Ende dieses Jahres ein gutes Abitur“ aus
dem Mund von Frau Merkel, die sich auf kleinen Füßen aufmacht, um wieder die
Bundeskanzlerin zu sein.
Welche Note geben die Schüler ihrem prominenten Vertretungslehrer?
Tillman, 17
Ich fand es sehr amüsant.
Man hat gemerkt, dass sie
sich für unsere Antworten
interessiert hat und sie hat
viele Geschichten aus ihrer
Kindheit erzählt. Das war
mal ein ganz anderer Unterricht,
so bin ich das gar nicht
gewohnt. Es war total toll.
Note: 1-
Judith, 18
Ich war ziemlich überrascht,
dass sie so lustig und offen
ist. Ich finde es toll, dass
sie nicht nur Geschichte
unterrichtet, sondern auch
Persönliches erzählt hat. Sie
ist ein humorvoller Mensch,
aber manchmal war ihre
Stimme sehr monoton.
Note: 2
Levon, 18
Ich fand die Stunde interessant.
Trotzdem waren es die
längsten 45 Minuten meiner
Schulkarriere.
Note: 2+
Text: Milena Zwerenz
Fotos: André Forner
Video: Silvio Duwe
Sehr Interessanter Artikel und bestimmt eine tolle Stunde. Auch Leute die sich nicht für Politik und Geschichte interessieren bekommen durch die persönlichen Einwürfe von Frau Merkel einen Bezug dazu. Schön sie auch mal von einer privateren Seite zu sehen als im Bundestag!