Vorher
Bevor Gregor Gysi seinen Weg in das Klassenzimmer einer 10. Klasse des Gebrüder-Montgolfier-Gymnasiums in Berlin antreten kann, wird er zunächst von den Redakteuren der Schülerzeitung „Freiflieger“ mit Fragen gelöchert. „Warum sind Sie Schulpate unseres Gymnasiums und was verbindet Sie mit dieser Schule?“, wollen die neugierigen Redakteure wissen. Das sei ziemlich einfach, antwortet der Politiker der Linken, er sei von der dritten bis zur achten Klasse selbst Teil dieser Schulgemeinschaft gewesen. „Ich habe hier ganz in der Nähe gewohnt, das war ausgesprochen bequem, aber glaubt mir, selbst da kann man zu spät kommen“, fügt er lachend hinzu.
wurde am 16. Januar 1948 in der deutschen Hauptstadt geboren. Er machte zunächst eine Lehre zum Facharbeiter für Rinderzucht mit Abitur und absolvierte anschließend ein Studium der Rechtswissenschaft. Ab 1971 arbeitete Gysi als einer der wenigen Rechtsanwälte in der DDR. Nach dem Mauerfall wurde er Vorsitzender der SED-PDS und 1990 Mitglied des Deutschen Bundestages. Im Jahr 2002 wurde Gysi zum Berliner Bürgermeister und Senator gewählt, trat jedoch von beiden Ämtern nach sechs Monaten zurück. 2005 bis 2015 war er der Fraktionsvorsitzende der Linken im Bundestag. Inzwischen ist der Anwalt seit Dezember 2016 Präsident der Europäischen Linken.
Während der Stunde
Die Stimmung im Klassenzimmer ist erwartungsvoll und angespannt, als Gregor Gysi um 10:35 Uhr das Klassenzimmer betritt. Die erste Reihe nehmen einige Jungs in Anzügen ein. Das fällt auch dem heutigen Vertretungslehrer für politische Bildung sofort auf: „Ihr seht ja elegant aus, so schick war ich in meiner Schulzeit nie“, kommentiert er schmunzelnd die schnieken Zweiteiler der Schüler, woraufhin die Klasse lacht. Später erklärt einer der jungen Krawattenträger, sie hätten ihre Bildungsinstitution schon immer einmal im Anzug besuchen wollen: „Als wir gehört haben, dass Herr Gysi kommt, haben wir die Gelegenheit genutzt und uns in Schale geworfen.“
Der prominente Gast nimmt nun hinter seinem frisch erlangten Lehrerpult Platz und beginnt sein eigens ausgewähltes Thema Demokratie zu erläutern. Die Feststellung, dass vielen Menschen die Demokratie immer fremder werde, brachte ihn zu dieser Themenwahl. Zunächst erklärt der Linken-Politiker die Grundsätze der Demokratie und wie wichtig es sei, dass sich die demokratischen Parteien deutlich voneinander unterschieden. „Sonst kann die AfD, die ich natürlich überhaupt nicht leiden kann, so tun, als sei sie die einzige Alternative“, erläutert der Berliner. Wenn man nicht die Wahl zwischen verschiedenen Konzepten habe, könne das gefährlich werden.
Des Weiteren geht der Politiker auf ein Thema ein, das sich die Schülerinnen und Schüler auf die Agenda gesetzt haben: Klimapolitik. Gregor Gysi befürwortet die Streiks im Rahmen von Fridays for Future und findet es sinnvoll – anders als sein FDP-Kollege Lindner –, dass die Demonstrationen freitags stattfinden. „Man streikt doch nicht am Wochenende, sondern in der Arbeitszeit“, echauffiert sich der Rechtsanwalt. Er begrüßt es ebenfalls, dass die Jugendbewegung sechs Forderungen formuliert hat. Als nächsten Schritt sollten die Schüler, seiner Empfehlung nach, eine Delegation bilden, sich auf einen Termin mit der Kanzlerin einigen und eine Vereinbarung schließen. „Natürlich ist das kein verbindlicher Vertrag, aber dann könnt ihr wieder freitags zur Schule gehen“, erklärt Gysi, „sobald die Bundesregierung oder der Bundestag aber auch nur einen Punkt der Abmachung verletzen, streikt ihr wieder.“ Abschließend lobt er das Engagement der Demonstrierenden im Klassenzimmer: „Ich finde es sehr gut, dass ihr rebellisch werdet, das ist höchste Zeit.“
Die Schüler haben nicht nur viel Interesse, sondern auch viele Fragen mitgebracht. Die heißt es für Gysi am Ende der Stunde zu beantworten. Von Schülerin Charlotte wird der Politiker beispielsweise nach einem idealen Regierungssystem gefragt. Gysi zögert nicht lange und plädiert für eine Weltregierung. Warum? Weil es, laut ihm, weltweit agierende Konzerne gibt, die nationalstaatlich nicht regulierbar und dadurch zu mächtig seien. Er fügt hinzu, dass es ihm ebenfalls nicht gefalle, dass ausschließlich die Kanzler gewählt, die Minister jedoch ernannt werden. Das gebe den Kanzlern eine absolute Größe. Außerdem könne so selbst „die größte Pflaume“ zum Kabinettsmitglied werden.
Leider werden Gysi und das Klassenkollektiv von dem erbarmungslosen Klingeln der Pausenglocke unterbrochen, noch bevor alle Fragen beantwortet sind. Doch auch wenn sie alle gerne noch länger beieinander gesessen hätten, muss der Politiker nun zu einem Gerichtstermin weiterziehen, der keinen Aufschub erlaubt. So wirft er einen letzten charmanten Luftkuss in den Raum und verlässt die Klasse unter Applaus.
In Hemd und Sakko – für den hohen Besuch des Präsidenten der Europäischen Linken haben sich einige Schüler
besonders schick gemacht.
Nachher
Als wir Gregor Gysi nach der Stunde nach einem Feedback fragen, äußert er sich angetan: „Ich finde, dass die Schüler sehr aufmerksam waren, ich weiß gar nicht, ob ich früher auch so war“, gesteht er und lacht. „Sie haben sehr kluge und interessante Fragen gestellt, ich war in jeder Hinsicht angenehm überrascht“, fügt er hinzu. Zu guter Letzt fragen wir ihn, wie er das demokratische Denken an Schulen fördern würde. „Ich würde zunächst über eine Frage abstimmen lassen, die ich noch nicht erklärt habe. Dadurch wird die Abstimmung völlig chaotisch und willkürlich. Dann würde ich den Sachverhalt erklären und noch mal abstimmen lassen, um den Schülern zu verdeutlichen, wie wichtig Wissen ist, bevor man eine Entscheidung trifft“, erklärt Gysi und fährt fort: „Das Wahlrecht bringt auch die Pflicht mit sich, informiert darüber zu sein, was man wählt. Auf Unwissenheit basierende Entscheidungen sind keine Demokratie, sondern Willkür.“
Fazit aus der Klasse
Nelya, 15:
„Gregor Gysi hat mir das Gefühl gegeben, dass da jemand auf unserer Seite steht und dass wir Probleme gemeinsam bewältigen können.“
Note: 1- bis 2+
Cajus, 15:
„Ich hatte schon sehr hohe Erwartungen an Gregor Gysi, aber er hat sie komplett erfüllt. Allerdings hat er auf relativ wenige Fragen immer sehr lange geantwortet.“
Note: 1-
Julian, 15:
„Verglichen mit anderen Lehrern war es sehr spannend zuzuhören, da er nicht so kompliziert erklärte und alles sehr gut verständlich war.“
Note: 2+
Text von Naomi Asal, 19, Redaktionspraktikantin, kann nicht nur ihren Namen tanzen.
Fotos von Norbert Neumann, Dresdner Fotograf, war schon bei den verschiedensten SPIESSER-Aktionen dabei.
Kamera & Schnitt: Michael Auerswald
Redaktion: Polina Boyko, Duc Hai Le
Teaserbild: Paula Hohlfeld