Polimika – die Kolumne

„Salto mortale ins Menschenleben“

Als die kleine Dorothy loslatschte, um den Zauberer von Oz zu finden, gab es da drei Pappnasen, die ihr auf dem Weg Gesellschaft leisteten. Natürlich das nicht ganz uneigennützig, denn allen dreien fehlte etwas, das sie vom Zauberer zu bekommen hofften: Herz, Mut und Verstand. Diese drei unvollständigen Gestalten haben mit uns erstaunlich viel gemeinsam.

14. January 2015 - 14:07
SPIESSER-Autorin Individuot.
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Wenn so ein Jahr vorüber geht, ein neues beginnt, ergreift mich zumindest nicht selten eine gewisse Unsicherheit. Klar, das hängt damit zusammen, dass man zu Weihnachten wieder alle aus den alten Tagen trifft und nicht selten scheint das Gras ihrer Lebensumstände mindestens drei Farbnuancen grüner: Der eine hat letztes Jahr im Ausland gelebt und spricht nun eine fremde Sprache, der andere macht gerade seinen Bachelor und hat schon einen Masterplatz sicher, der dritte wurde gerade von seinem Ausbildungsbetrieb übernommen. Ach ja, in festen Beziehungen sind natürlich auch alle und auch da ist natürlich alles Friede, Freude, Eierkuchen.

Gut. Dass ein großer Teil dieser Selbstdarstellung wenig mit dem eigentlich Alltag zu tun haben, weiß man zwar tief in sich drin, aber irgendwie quiekt trotzdem die ganze Zeit diese fiese, miese Stimme im Kopf: „Was hast du eigentlich die letzten Jahre gemacht? Was hast du im kommenden Jahr vor? Wird's nicht auch mal Zeit, dass du deinen Abschluss machst und einen Job findest?“ Meine fiese, miese Kopfstimme fängt von Beziehungen zum Glück gar nicht erst an, aber ihr wisst was ich meine.

Und zumindest ich fühle mich genauso wie Dorothys Kumpanen unvollständig. Bei Dürrenmatt heißt es irgendwo recht passend: „Nach einem Faulpelz sehen Sie mir nicht aus, aber zu einem richtigen Salto mortale ins volle Menschenleben haben Sie sich bis jetzt nicht aufraffen können.“ Und genau so möchte ich mich vor jeder Entscheidung am liebsten verkriechen und erst wieder rauskommen, wenn alles von jemand anderem entschieden wurde. Wenn der Weg dann doch in eine bestimmte Richtung zeigt, kann ich nicht aufhören mir das Hirn zu zermartern, ob es nicht bessere Alternativen gäbe. Folgend aus diesen beiden schlechten Eigenschaften ist eine leidenschaftliche Herzensentscheidung sowieso nicht möglich. So gesehen bin ich so schlimm wie Dorothys drei Anhängsel zusammen.

Vielleicht sind das Zukunftsängste. Vielleicht ist es die Qual der Wahl. Aber genauso wie bei Dorothys Kumpels ist der Weg das eigentliche Ziel. Unterwegs hinterfragen wir uns tausendmal und sind uns mindestens genauso oft nicht sicher, was das eigentlich alles soll. Und so lernen wir uns kennen bis wir eines Tages erkennen, dass wir vielleicht nicht vollständig sind, aber dass nur noch eine Hand voll Puzzleteilchen fehlt. Dann können wir getrost dem Zauberer unseren Allerwertesten zuwenden und erkennen, dass dieses Rumgeflenne à la Qual der Wahl Luxusprobleme eines ansonsten verdammt bequemen Lebens sind.

Text: Polina Boyko
Foto: Anja Nier

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