„Was ist eine starke Frau?“ Das habe ich Sandra Lassak gefragt. Sie ist theologische Grundsatzreferentin bei MISEREOR und hat gemeinsam mit einigen Kolleginnen eine ganze Themenreihe veröffentlicht, in der starke Frauen vorgestellt werden. Ihre Antwort auf meine Frage ist eindeutig: „Mütter, die tagtäglich oft allein ihren Alltag bewältigen, erziehen und arbeiten – also Managerinnen der Familien sind, sind ebenso starke Frauen wie jene, die sich dafür einsetzen, dass Frauen insgesamt mehr Rechte erlangen.“ Stark sind Frauen, die ihren eigenen Weg gehen. Dafür braucht es allerdings eine Welt, die zulässt, dass sich jede und jeder – unabhängig vom Geschlecht und jenseits herkömmlicher geschlechtlicher Rollenzuschreibungen – frei entfalten kann. Wo stehen wir diesbezüglich aktuell und was muss sich verändern, um einegerechtere Welt zu erreichen, in der Frauen und auch Männer besser leben?
8. März 2021, Weltfrauentag – Worauf können wir zurückblicken?
Aktuell ist immer noch die Hälfte der Weltbevölkerung von Armut, Gewalt und Diskriminierung betroffen. Dieser Zustand wird gerade jetzt durch die anhaltende Corona-Pandemie verschärft. Frauenhäuser haben seit Beginn der Pandemie einen größeren Zulauf, Zwangsverheiratungen von Kindern, Vergewaltigungen, häusliche Gewalt sowie Frauenmorde stiegen drastisch an, erklärt Sandra Lassak.
Ein weltweiter Vergleich im Hinblick auf Geschlechtergerechtigkeit ist schwierig zu ziehen. Die MISEREOR-Referentin betont deshalb in unserem Gespräch, wie wichtig es sei, mit allen Kontinenten und Ländern zu arbeiten. Die abgebildeten Frauen in der Themenreihe „Starke Frauen“ sollen deshalb Porträts in unterschiedlichen Lebenskontexten abbilden.
Hinter jedem Schritt steht ein langer Kampf
Vor allem in den letzten Jahren hat sich jedoch global gesehen einiges getan, berichtet sie. Besonders laut sind die Stimmen der feministischen Bewegungen in Lateinamerika dabei zu vernehmen. Beispielsweise konnte im vergangenen Jahr auf massiven Druck der Frauenbewegungen die Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs in Argentinien erreicht werden. In einem von sexualisierter Gewalt geprägten Kontext, in dem Frauen und Mädchen an unfreiwilligen Schwangerschaften oder illegalen Abbrüchen sterben, ist dies ein wichtiger Schritt. Ebenso wurde in vielen Ländern mehr Druck ausgeübt, Gewalt an Frauen und Mädchen konsequent strafrechtlich zu verfolgen und Wahlrecht ist im Großteil der Welt kein Männerrecht mehr. Hinter jedem dieser Schritte in Richtung einer geschlechtergerechten Welt steht eine feministische Bewegung, die jahrzehntelang für diese Schritte gekämpft hat. Die größte Stärke feministischer Bewegungen liegt darin, Themen auf die politische Agenda zu bringen, erzählt mir Sandra Lassak. So haben zum Beispiel die feministische Bewegung in Lateinamerika und auch die #Metoo-Bewegung sexualisierte sowie sexuelle Gewalt aber auch den Femizid – also den Mord an Frauen aufgrund ihres Geschlechts – zum weltweiten Thema gemacht. Seitdem kann in vielen Ländern Gewalt gegen Frauen, vor allem wenn diese vom Partner ausgeübt wurde, strafrechtlich konsequenter verfolgt werden.
„In vielen Ländern gibt es zudem heute ein größeres Bewusstsein für feministische Theorien und Frauenbewegungen. Dadurch werden Frauen nicht in reproduktive, unbezahlte Arbeit abgedrängt“, so Sandra Lassak. Außerdem wurden größere Rechte im Bereich der Eheschließung und -auflösung weltweit erreicht, wodurch Frauen heute zusätzlich einen besseren Zugang zum Arbeitsmarkt haben.
Gewusst? Aktuell ist Fastenzeit. Seit 1959 gestaltet MISEREOR in der katholischen Kirche in Deutschland die Fastenzeit mit und bittet die Bevölkerung mit der Fastenaktion jedes Jahr um Solidarität und Unterstützung für Benachteiligte in Asien und Ozeanien, Afrika und dem Nahen Osten, Lateinamerika und der Karibik. Jedes Jahr stehen ein anderes Thema und ein anders Land im Fokus der Fastenaktion. 2021 lädt sie in bundesweit mehr als 10.000 Gemeinden ein: „Es geht! Anders.“ – Alle Infos auf fastenaktion.misereor.de
Die Corona-Krise als Chance für mehr Gleichberechtigung?
Apropos Arbeitsmarkt: Der diesjährige Weltfrauentag wurde von den Vereinten Nationen unter das Motto „Frauen in Führungspositionen: für eine gleichberechtigte Zukunft in einer COVID-19-Welt“ gestellt. Auch in Deutschland verdienten Menschen, die sich als Frauen verstehen, 2019 noch 19 Prozent weniger als Männer. Der „Gender Pay Gap“ ist also eine globale Herausforderung.
Zum Aspekt der ungleichen Bezahlung für gleiche Tätigkeiten und Positionen tritt ein weiterer Fakt: Weltweit wird die meiste schlecht bezahlte Care-Arbeit von Frauen übernommen. „Die Bereiche Pflege, Bildung und Gesundheit müssen mehr wertgeschätzt werden – wir brauchen eine systemische Reform“, fordert Sandra Lassak deshalb. Die aktuelle Corona-Pandemie zeige deutlich, wo Gleichberechtigung unbedingt noch weiter vorangetrieben werden muss.
„Jede Krise sollte als Chance für Veränderung gesehen werden“, so die MISEREOR-Mitarbeiterin. Dennoch sei sie skeptisch, ob die Pandemie andere Tarifverträge für Beschäftigte im Care-Arbeit-Sektor hervorbringen wird. „Die Hoffnung bleibt, dass wir umdenken, Arbeit neu denken und Systeme kritisch hinterfragen.“
Nie gegeneinander, immer miteinander
Als Schlüssel zur Veränderung sieht sie Bildung. Wichtig sei es, strukturelle Gewaltformen zu verstehen. Dazu gehört auch psychologische und symbolische Gewalt. „Wir müssen mehr hinterfragen, wo Mädchen und Frauen ausgeklammert werden und verstehen, dass der öffentliche Raum sehr männlich geprägt ist“, erklärt Sandra Lassak. Fragen wie „Wie muss ein Mädchen sein?“ sollten der Vergangenheit angehören. „Wir müssen weg von den traditionellen Rollenzuschreibungen und schlichtweg rebellischer sein“, fordert sie. Jungen und Männer sollten dabei nicht aus dem Blick zu geraten, denn sie leiden oft unter dem herrschenden Männlichkeitskonstrukt, das sie dazu auffordert möglichst emotionslos, dominant und „stark“ zu sein.
Geschlechtergerechtigkeit funktioniert nur, wenn
die gesamte Gesellschaft mitzieht: Mädchen und
junge Frauen, sowie deren Mütter, Väter und
Großeltern. Der MISEREOR-Partner Tagné setzt sich
so in Mali gegen weibliche Beschneidung ein.
© Nicolas Réméné
Umwelt und Frauenrechte Hand in Hand denken: Patricia Gualinga
So wie die feministische Bewegung nicht ohne Männer gedacht werden kann, kann sie auch nicht ohne die ökologische Bewegung gedacht werden. Eine Frau, die sich dafür einsetzt, dass unser Planet bewahrt und Frauenrechte gestärkt werden, ist Patricia Gualinga. Auch sie wird in der Themenreihe „Starke Frauen“ von MISEREOR ausführlich vorgestellt. Ihre Geschichte berührte Sandra Lassak besonders. Die Menschenrechtsaktivistin aus Ecuador setzt sich gegen die Zerstörung des Amazonas und für indigene Frauen ein. „Wir leben im Ungleichgewicht mit der Welt und zerstören die Natur. Und auch unsere Beziehungen untereinander – vor allem die zwischen Frauen und Männern – sind aus dem Gleichgewicht geraten“, meint Lassak, die selbst einige Zeit in Peru im Bereich der Frauenbildung und Gewaltprävention gearbeitet hat.
Frauen weltweit helfen – die Arbeit von MISEREOR
Sie verbindet eine lange Geschichte mit dem Einsatz für Gleichberechtigung: Bereits während ihres Theologiestudiums erlangte sie ein Bewusstsein für die strukturellen Ungerechtigkeiten gegenüber Frauen in der katholischen Kirche. Heute liegt es ihr am Herzen, dem Engagement für Gleichberechtigung und Frauenförderung innerhalb der katholischen Kirche eine Stimme zu geben.
MISEREOR unterstützt verschiedene Projekte in unterschiedlichen Ländern mit dem Schwerpunkt Mädchen- und Frauenförderung. Angefangen mit Bildungsmaßnahmen, um Gewalt zu verhindern, über Gewaltprävention bis hin zu psychosozialen Programmen. Dabei betont Sandra Lassak, dass sie mit lokalen Partnergruppen zusammenarbeiten und diese unterstützen. Das heißt, MISEREOR leistet durch die Bereitstellung von finanziellen Mitteln Hilfe zur Selbsthilfe, ohne den lokalen Gruppen eigene Ideen aufzuzwängen.
Eine kleine Zeitreise: Was hat sich zum Weltfrauentag 2022 getan?
„Sie bringen uns um!“: Die bolivianische Partner-
organisation ECAM macht mit seiner Kampagne
„Du bist nicht allein“ (#NoEstasSola) auf häusliche
Gewalt an Frauen, insbesondere während der
Pandemie, aufmerksam. © ECAM
„Eine Gesellschaftsveränderung ist ohne Geschlechtergerechtigkeit nicht möglich“, resümiert Sandra Lassak. Schon heute zählt beispielsweise die feministische Bewegung in Lateinamerika zu den stärksten Kräften für gesellschaftliche Veränderung, erzählt sie. Für ein harmonischeres Miteinander sei es wichtig, die patriarchalen, gewaltvollen Grundstrukturen und -mentalitäten aufzubrechen und das Bewusstsein zu verankern, dass Frauen ebenso wie Männern Rechte und Würde zustehen.. Dafür fordert sie von den Regierungen weltweit, dass diese mehr in Prävention und Aufklärungsarbeit sowie in Bildung investieren. „Ich hoffe, dass es 2022 veränderte Arbeitsbedingungen gibt und Care-Arbeit einen anderen Stellenwert besitzt“, so Sandra Lassak, „auch das Strafrecht in Bezug auf Gewalt gegen Frauen muss an vielen Orten durchgesetzt werden.“
Es ist also auf vielen Ebenen etwas zu tun. Heute, morgen und wohl leider auch in der weiteren Zukunft. Die Verantwortung für die Schaffung einer Welt, in der Gleichberechtigung herrscht, liegt bei uns allen. Dabei gilt: Sich vernetzen und gemeinsam denken hilft immer, denn gemeinsam sind wir stärker.
Seit Beginn der Pandemie wurden wir mit der AHA-Regel (Abstand, Hygiene, Alltagsmaske) vertraut gemacht, um die Ausbreitung des Virus zu verringern. Aber: Allein der Zugang zu fließendem Wasser ist in vielen Ländern keine Selbstverständlichkeit. Mit einer Spende von 45 Euro können zum Beispiel 15 Flaschen Waschgel à 250 ml bereitgestellt werden, um von Armut betroffenen Menschen das Händewaschen zu ermöglichen und sich somit besser vor der Pandemie zu schützen. Mehr Informationen zu den verschiedenen Spende-Möglichkeiten gibt es auf www.misereor.de/spenden
Dieser Beitrag entstand in Zusammenarbeit mit Misereor e.V.
Text: Hannah Jäger
Headerbild: Patricia Gualinga ist ein Gesicht der Reihe „Starke Frauen“. Sie kämpft für den Erhalt Amazoniens. © Privat_MISEREOR