Nichts Gutes passiert nach zwei Uhr morgens? Glatt gelogen. SPIESSER-Autorin Susanne tauscht Schönheitsschlaf gegen Backschürze und entdeckt die wahren Helden der Nacht.
26. April 2016 - 10:35 SPIESSER-AutorIn dezemberistin.
Träge nicke ich dem Zombie zu, der mich aus dem Fenster der Straßenbahn anstarrt. 1:30 Uhr. Ob der Untote auch auf dem Weg zur Arbeit ist? Offensichtlich, denn bei genauerem Hinsehen entpuppt er sich als mein übermüdetes Spiegelbild. Und das macht jetzt gemeinsam mit mir den Härtetest in der Bäckerei. Nach einem kurzen Schläfchen. Nur ganz kur... Mist, meine Haltestelle.
Draußen ist tiefe Nacht, in der Bäckerei geschäftiger Arbeitsalltag. So ohne Weiteres wird mir als Hilfsbäckerin der Zutritt zum Backblech aber nicht gewährt. Die Ringe an meinen Fingern müssen in der Umkleide bleiben. Im Tausch gegen den Schmuck bekomme ich ein Stoffbündel in die Hand gedrückt: eine elegante Schürze und einen Bäckerhut. Ob die zusätzliche Kleidung ein Vorteil ist, muss sich erst noch zeigen – angesichts der Saunatemperaturen in der Backstube ist jedes Stück Stoff eigentlich zu viel.
Wird sich das jemals wieder lösen? Susanne
ist sich da gar nicht so sicher.
Zwischen verschiedenen blinkenden und piependen Automaten schleust mich Bäcker Stefan durch den engen Raum. Die Star Trek Voyager ist ein altmodischer Kinderspielplatz verglichen mit dieser Maschinenkulisse. Bei wie viel Grad fängt der menschliche Körper eigentlich an, sich selbst zu backen? Hier drin sind locker 80 Grad! Gefühlt zumindest. Vielleicht kann Jan mich aufklären. Er ist einer von neun Bäckern, die heute Nacht mit mir zusammen für euer Frühstück schwitzen. „So 40 Grad können es hier drin schon locker werden“, erklärt er mir, während er nebenbei mit einer riesigen Schaufel in unfassbarer Geschwindigkeit Brötchen aus dem Ofen rettet. „Im Sommer sogar noch mehr.”
Vorbei an dutzenden Regalen mit Blechen, Backpapier und Brötchen stolpere ich in Richtung einer überdimensionalen Metallschüssel, die mir bis zum Bauch reicht. Ich werfe einen Blick hinein: Da drin ist genug Roggenmischbrotteig, um jeden, der zu viele Fragen stellt, unauffällig für immer verschwinden zu lassen. Dafür wird er natürlich nicht verwendet. Der riesige Teighaufen soll zu vielen leckeren und hygienisch unbedenklichen Roggenbroten verarbeitet werden. Bevor es so weit ist, kommt er aber noch in einen anderen Bottich, wo er in kleinere Portionen verwandelt wird.
Wer wird denn heimlich naschen?
Meine Gelegenheit zu beweisen, dass ich dem harten Bäckerei-Alltag gewachsen bin! Wie ein kleiner Schaufelbagger grabe ich mich durch den Inhalt der Schüssel, um die erste Portion Teig umzuschichten. Während das Rausholen noch problemlos funktioniert, bin ich mit dem zweiten Teil der Aufgabe völlig überfordert. Der Teig möchte sich einfach nicht mehr von mir lösen. Äußerst anhänglich und überraschend schwer hängt die klebrige Masse an meinen Händen. Wird das jemals wieder abgehen? Bäckerei-Chef René Krause blickt mich ernst an und schüttelt den Kopf. „Das geht nicht ab. Nie mehr. Langsam aber sicher wirst du jetzt selbst zum Brot.“
"Jetzt wirst du selbst zum Brot" – das erklärt
Susannes Gesichtsausdruck, oder?
Vor Schreck fällt mir der Teigklumpen doch noch aus der Hand. Herr Krause erbarmt sich und zeigt mir, wie man sich gegen die hartnäckige Klebemasse wehrt. Mit Mehl. Ich versuche mein Bestes, habe das Mehl aber nach kurzer Zeit nicht nur an meinen Händen, sondern auch gleichmäßig über den Rest meiner Kleidung verteilt. Zum Saubermachen ist aber keine Zeit. Während ich noch dabei bin, wenigstens meine eingestaubten Hände an der jetzt doch sehr praktisch erscheinenden Schürze abzuwischen, sind Stefan und Herr Krause schon längst an den nächsten Apparaten. Und zwar irgendwie an allen gleichzeitig. Wie zwei indische Götter mit unendlich vielen Armen schichten sie die Brote in Backformen, holen fertige Brötchen aus dem nervös piependen Ofen, schieben neue hinein und machen die nächste Teigmischung. Ein bisschen lässt sich das alles mit olympischem Kunstturnen vergleichen. Denn auch in einer Bäckerei sind in erster Linie Konzentration, Koordination und auch ein bisschen feenhafte Eleganz gefragt. Im Vergleich kommt mir das weihnachtliche Plätzchenbacken mit meiner Oma vor wie eine Eisenbahn-Doku im Nachtprogramm der ARD.
Und dann noch diese gute Laune bei der Arbeit! Ich frage nach, wie das eigentlich geht: „So ein warmes Brötchen in der Hand zu halten und zu wissen ‚Das hab ich gemacht!‘ ist ein richtig gutes Gefühl“, sagt René Krause. Die Arbeitszeiten des Bäckers lobt er auch: „Wer nachts arbeitet, hat den ganzen Tag über Freizeit.“ Bringt das denn was, wenn alle Freunde einen ganz anderen Tagesrhythmus haben? „Die wissen ja alle, dass ich Bäcker bin und nehmen Rücksicht darauf, wenn ich ein bisschen eher ins Bett muss.“
Am Ofen kommt Susanne richtig ins Schwitzen.
Inzwischen in den wesentlich kühleren Räumen der Konditorei gelandet, beobachte ich Stefan beim Zuckern des Streuselkuchens. Locker aus dem Handgelenk zaubert er eine gleichmäßige und wunderschöne Glitzerschicht auf den Kuchen. Dann bin ich dran. So gut wie möglich versuche ich, seine Bewegungen nachzuahmen – und fabriziere ungelenk eine Zuckerlandschaft aus unförmigen weißen Hügeln. Verdammt. Das sah so einfach aus. „Macht nichts“, findet Stefan. „Bis jetzt hat sich noch kein Kunde darüber beschwert, dass zu viel Zucker auf seinem Kuchen war.“
Auf meinem Weg nach Hause fällt mir auf, dass ich meine neuen Helden gefunden habe: im nächtlichen Kampf für ein gemütliches Frühstück mit warmen, duftenden Brötchen für jeden von uns.
Text: Susanne Rentsch
Fotos: Timo Schmidt
Video: Benjamin Schindler
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