Doch trotz oder gerade durch die anhaltende Berichtserstattung seit 2011 fällt es inzwischen wirklich schwer, dem schnelllebigen Geschehen im Land der Pharaonen zu folgen und die vielen Ereignisse in ihre logische Chronologie zu bringen. Paradoxerweise schaffen es die Medien nämlich auch mit zu viel Aufmerksamkeit, dem Menschen den Überblick zu verwehren. Dringend wird es also Zeit, für einen zusammenfassenden Rück- und Überblick über den Machtkampf am Nil.
Der Kampf gegen das Mubarak-Regime
2011 sprang der Funke der tunesischen Revolution auch auf Ägypten über und entwickelte sich schon bald zum flächendeckenden Großbrand. Die ägyptischen Straßen erwachten, verliehen ihrer Unzufriedenheit Ausdruck und forderten das Ende des Mubarak-Regimes. Seit Jahren regierte Husni Mubarak das Land mit Hilfe des Notstandsgesetzes faktisch autokratisch und zudem unerfolgreich: Die Ägypter klagten über die willkürliche Polizei-Brutalität. Sie verlangten Redefreiheit und das Ende der Korruption. Sie sahen die Zeit reif für Freiheit, Demokratie und Gerechtigkeit. Vor allen Dingen hatten sie aber existenzielle Interessen: Die hohe Arbeitslosigkeit, die geringen Löhne und die rasante Anstieg der Lebensmittelpreise trieben große Teile der ägyptischen Bevölkerung in die Armut. Daran musste sich mit einer neuen Regierung etwas ändern. Darin würde ihr Erfolg gemessen werden.
Die Proteste wurden schnell ähnlich blutig wie sie es heute sind. Über 800 Tote hatten die Demonstranten nach Regierungszahlen zu beklagen. Die Protestierenden griffen dabei zum großen Teil zu friedlichen Methoden, demonstrierten oder streikten, viele zeigten ihren Unmut auch im Internet. Doch einige militante Widerständler zögerten nicht, Aufstände zu initiieren und sich Straßenschlachten mit der Polizei zu liefern, die viele Opfer forderten. Mubarak reagiert zögerlich auf die zunehmende Unruhe im Volk. Erst das Militär, das sich auf die Seite der Bürger stellte, zwang ihn zum Entgegenkommen: Er entließ das Parlament und besetze das Amt des Vizepräsidenten mit einem Kandidaten der Opposition, der dann mit der Neubildung des legislativen Organs beauftragt wurde.
Als Antwort auf den steigenden Druck verzichtete Mubarak schließlich auf die Wiederwahl 2012. Für seine Verbrechen wurde er angeklagt und als schuldig empfunden (lebenslange Freiheitsstrafe), das Verfahren ging aber sofort in die Berufung. Der 85-Jährige darf wohl auf einen Freispruch hoffen. Erst kürzlich wurde er aus der Haft entlassen, in Ägypten dürfen Untersuchungshäftlinge nämlich maximal für zwei Jahre festgehalten werden.
Die Amtszeit Mohammed Mursis
Sechs Monate regierte das Militär mit einem Übergangspräsidenten und bereitete den Weg zu den ersten freien demokratischen Wahlen Ägyptens im Juni 2012. Es gewann: Mohammed Mursi, der Kandidat der Muslimbruderschaft. Viele befürchteten, dass auf das autokratische, aber säkulare Regime Mubaraks nun eine islamistische Herrschaft folgen würde.
Und tatsächlich orientierte er die ägyptische Verfassung schon in den ersten Monaten näher an der Scharia, deren Prinzipien in Ägypten allerdings schon seit über vierzig Jahren als Grundlage der Rechtsprechung gelten. Inwieweit sich dies unter Mursi verschärft hätte, wäre hauptsächlich von seiner Auslegung der neuen Verfassung abhängig gewesen. Die ist teils ziemlich schwammig formuliert. Artikel 11 sieht zum Beispiel vor, dass „der Staat Ethik und Moral und öffentliche Ordnung garantieren soll“.
Trat Mursi anfangs noch mit dem Anspruch an, alle Ägypter zu repräsentieren – genau einen solchen Präsident brauche Ägypten jetzt –, stand er schon bald als Vertreter der Muslimbruderschaft dar. Er widmete einen Großteil seiner Amtszeit dem Besetzen relevanter Posten mit Leuten aus den eigenen Reihen und lieferte sich Machtkämpfe mit Militär und Justiz. Hierbei erklärte er zum Beispiel die vom Militärrat verabschiedeten Verfassungszusätze als unwirksam, in denen der Rat seine Macht zementiert hatte. Nichtsdestotrotz vermuteten die meisten Experten, dass nach wie vor das Militär die Fäden in der Hand hatte, was sich mit dem Absetzen Mursis dann schließlich bewahrheitete.
Inzwischen machen sich sogar erste Gerüchte breit, dass das Militär die Wahl zu Mursis Gunsten gefälscht habe. Der Militärrat hätte wohl in dem unerfahrenen Kandidat größere Chancen für eine Zusammenarbeit gesehen und gefürchtet, dass das Volk sich mit dem noch aus dem alten Mubarak-Kader stammenden Konkurrenten nicht zufrieden geben würde. Stimmte dies, wäre es nur ein weiterer Beweis dafür, dass die Macht Ägyptens in den Händen des Militärs liegt, das dort traditionell schon immer viel zu sagen hatte.
Am meisten Aufsehen erregte Mursi im Westen aber, als er am 22. November 2012 der Justiz und anderen Staatsorganen das Vetorecht für seine Gesetze in der Übergangszeit entzog und damit de facto die Gewaltenteilung abschaffte. Heftige Proteste zwangen Mursi letztlich allerdings dazu, diesen Schritt rückgängig zu machen.
Aus Sicht des Volkes aber entscheidend: Abgesehen von einem außenpolitischen Erfolg bei der Vermittlung zwischen Israel und Palästinensern um den Gaza-Streifen hatte Mursi nichts erreicht. Die Wirtschaft war immer noch nicht in Schwung gekommen. Im Gegenteil: Der Tiefkurs der Währung war nicht aufzuhalten, das Staatsdefizit wuchs unaufhörlich, die Lebenshaltungskosten stiegen weiter und ein wichtiges Standbein ägyptischer Wirtschaft, der Tourismus, brach aufgrund der prekären Sicherheitslage zusammen. Die Benzin-, Wasser- und Stromversorgung war katastrophal und Kriminalität und Gewalt nahmen zu. Die Ägypter sahen sich sogar gezwungen, Bürgerwehre gegen die steigende Zahl an Übergriffen insbesondere auf Frauen zu gründen.
Militärrat setzt Mursi ab
Es kam erneut zu Demonstrationen. Mehr als 22 Millionen Unterschriften sammelte eine Protestbewegung im Frühling 2013 für Mursis Abdankung. Das Militär reagierte schließlich und stellte Anfang Juli ein Ultimatum. 48 Stunden habe Mursi Zeit eine Einigung zwischen beiden Seiten zu erzielen oder zurückzutreten. Mursi entzog sich beidem und berief sich krampfhaft auf seine demokratische Legitimation. Dem Militär war das ziemlich egal. Am 3. Juli 2013 übernahm es die Macht.
Die zahlreichen Kritiker sehen in diesem Schritt einen »Militärputsch«. »Der letzte Nagel im Sarg von Ägyptens Demokratie« nennt DIE ZEIT die Machtübernahme.
Zwei Tage vorher erst Vorsitzender des Obersten Verfassungsgericht geworden, darf Adil Mansur nun die Interimpräsidentschaft übernehmen. Er soll das Land in die Neuwahlen führen, das inzwischen wieder von ähnlich blutigen Unruhen heimgesucht wird, wie zu Beginn der ägyptischen Revolution. Der Spieß hat sich gedreht: Waren vorher die Muslimbrüder an der Macht und ihre Gegner auf der Straße, muss sich nun die Bruderschaft in Protestcamps sammeln. Ihre Mitglieder werden vom Staat pauschal als gewaltbereite Extremisten betrachtet, die Bruderschaft als eine erhebliche Gefahr für Ordnung und Demokratie. Teile der Bevölkerung sehen dies ganz genau so.
Schließlich räumt das Militär die Protestlager und nimmt einige Führungskräfte gefangen. Die muslimischen Demonstranten leisten teils bewaffneten Widerstand, werfen Steine oder Brandsätze. Militär und Polizei erwidern die Gewalt auf brutale Weise. Es kommt zu Toten. Ihre Zahl wird von allen Konfliktparteien anders angegeben. Die aktuellen Aufstände haben aber sicher schon ebenso viele Tote wie die unter Mubarak gefordert. Ägypten ist wieder mitten drin in der Gewaltspirale.
Der Kurs, den Generaloberst al-Sisi sein Militär einschlagen ließ, ist unumkehrbar. Dialog und Kompromiss gibt es in Ägypten nicht mehr – beide wären ein Zeichen der Schwäche. Auch der militante Flügel der Muslimbruderschaft zieht mit, zündet koptische Kirchen an, attackiert die Polizei und terrorisiert so indirekt auch die Bevölkerung. Damit bestätigt und berechtigt sie die Auffassung des Militärs und der Bevölkerung nur. Die Muslimbrüder seien eine Bedrohung, die ausgemerzt werden muss.
Schlimm genug, dass sie sich die gesellschaftliche Akzeptanz ihrer an sich ja gerechtfertigen Forderung nehmen: Der demokratische gewählte Präsident müsse im Amt bleiben, bis er abgewählt wird. Die Muslimbruderschaft, die immerhin fast die absolute Mehrheit der Ägypter hinter sich vereint, verdiene ein ebenso großes Mitspracherecht in der Politik.
Stattdessen nimmt das Militär die Führung der Bruderschaft gefangen und überlegt sogar, die Vereinigung ganz zu verbieten.
Erst vor Kurzem starben 26 Polizeibeamte bei einem bewaffneten Angriff islamistischer Extremisten auf zwei Kleinbusse im Norden der Halbinsel Sinai. Tags zuvor meldeten die Behören mindestens 36 tote Untersuchungshäftlinge, die nach offiziellen Angaben in einem Gefangenentransport an Tränengas erstickten, nach Ansicht der Muslimbruderschaft aber auch von den Sicherheitskräften unter Beschuss genommen wurden.
Wie geht es weiter?
Das schlimmste Szenario für Ägypten zeigt sich mit einem Blick auf Algerien vor 20 Jahren. Hier lieferten sich Regierung und islamistische Kräfte einen blutigen Bürgerkrieg, der bis in die Jahrtausendwende das Volk erschütterte. Experten sehen einen solchen Bürgerkrieg in Ägypten aber als unwahrscheinlich an, die gewaltbereiten Islamisten seien dafür zu wenige. Zudem sei Ägypten kein ethischer Flickenteppich wie etwa Syrien.
Doch alleine die Gefahr eines Untergrundterrorismus macht den Dialog zwischen beiden Parteien sinnvoll. Die gegenwärtige Staatspropaganda lässt indes aber keine baldigen Verhandlungen vermuten. Auf allen Kanälen posaunt das Militär seine Siegesmeldungen hinaus, beschimpft die »Muslim-Terroristen« und fordert ihr blutiges Ende.
Deutsche Medien bezeichnen den status quo inzwischen als »Mubarak plus«. Der abgesetzte Diktator ist schon wieder so gut wie auf freiem Fuß, der demokratische gewählte Präsident schmachtet im Gefängnis. Zwei Jahre Kampf und Leiden für einen herben Rückschritt – das macht Wut.
Es ist doch wirklich kompliziert mit der Demokratie... Aber es lohnt sich. Selbst die Leidenden sind sich einig: Ihr Kampf muss gekämpft werden.
Ägypten steht weiterhin am Abgrund.
Peter Andre