Viktor W. (28) ist Geschichtsstudierender an der Uni Münster und ein sogenannter Russlanddeutscher. Das heißt, seine Familie brach vor weit über hundert Jahren in Richtung Russland auf, in der Hoffnung auf ein besseres Leben. Vor mittlerweile fast dreißig Jahren wollte Viktors Vater schließlich zurück nach Deutschland. Obwohl er sein ganzes Leben in Russland verbracht hatte, fühlte er sich nicht wie Zuhause.
03. March 2020 - 20:32 von SPIESSER-AutorIn Joshua94.
Als wir uns das letzte Mal sahen, hast du mir gegenüber deine Ängste bezüglich des Rechtsrucks in Deutschland geäußert. Nun ist die AfD gerade mit einem Viertel der Wählerstimmen in Thüringen zweitstärkste Kraft geworden, und dem neuen Parteivorsitzenden wurde mit freundlicher Unterstützung des völkischen Flügels zur Macht verholfen. [Thomas Kemmerich trat von dem Amt des Ministerpräsidenten zwei Tage später zurück. Anm. d. Red.]
Hier halte ich die abgedroschene Redewendung von der tickenden Zeitbombe ausnahmsweise mal für angebracht. Die AfD nutzt die Angst vor dem Fremden, der meine Familie in zwei Ländern ausgesetzt war, um zu wachsen. Angst macht Hass, und wer behauptet, dass der Hass sich nicht noch einmal entladen könnte, wie vor 80 Jahren, der täuscht sich meines Erachtens nach.
Das klingt ja tendenziell eher pessimistisch. Woran machst du deine Einschätzung fest?
Als ich noch im Einzelhandel gearbeitet habe, saß ich mal in der Mittagspause mit einigen Kollegen im Pausenraum. Einer von ihnen hatte türkische Wurzeln, sprach aber kein Wort türkisch und wurde in Deutschland geboren. Wir haben uns alle ganz normal unterhalten, bis besagter Kollege den Raum verließ, da fingen die Hasstiraden an. Ein halbes Dutzend erwachsener Männer zog auf das Übelste über einen Menschen her, mit dem sie gerade noch herumgealbert hatten, und das einzig und alleine auf Grund der Tatsache, dass seine Großeltern nicht in Deutschland, sondern in der Türkei geboren wurden.
Du meintest vorhin, dass deine Familie der Angst vor dem Fremden schon in zwei Ländern ausgesetzt war, wie meinst du das?
Meine Familie hat sich vor ziemlich langer Zeit vom Rheinland aus auf den Weg nach Russland gemacht. Meine Eltern haben dann ihr gesamtes Leben in Russland verbracht und wurden ständig in Schubladen gesteckt, weil sie eigentlich „Deutsche“ waren. Ich habe mein gesamtes Leben in Deutschland verbracht, und habe in meinem Pass die eingetragene Ethnie „Deutsch“, und dennoch werde ich in Schubladen gesteckt, weil man mich für einen „Russen“ hält. Das Schlimmste daran ist, dass inzwischen mein kleiner Neffe an der Reihe ist, der natürlich hier geboren wurde, und ich nichts dagegen tun kann, dass er wegen der Geschichte seiner Vorfahren anders behandelt wird, als seine Klassenkameraden. Mein Vater meinte dazu nur, dass er geglaubt hätte, dass wir inzwischen weiter wären, aber dem wird wohl leider nie so sein.
Woran glaubst du, liegt das?
Meine Schwester hat in ihrem Studium mal einen Gentest gemacht, bei dem heraus kam, dass sie zu 92 Prozent ethnische Deutsche sei, was der höchste Wert in ihrem Kurs war. Aber was soll das überhaupt bedeuten? Doch nur, dass meine Vorfahren irgendwann mal an einem bestimmten Ort geboren sind, mehr nicht. Yuval Noah Harari hat Volk und Nation ,,intersubjektive Wahrheiten´´ genannt, also fiktive Konstrukte, die nur durch unseren Glauben daran am Leben gehalten werden. Solange wir uns davon nicht lossagen, kann die Menschheit wohl nicht aufhören zu separieren und stereotypsieren.
Nun muss man allerdings dazu sagen, dass gerade die AfD sich alle Mühe gibt, die russlanddeutsche Gemeinschaft für sich zu gewinnen, es gab sogar schon Wahlprogramme und Flyer auf russisch. Meinst du nicht, dass du dir da erst mal weniger Sorgen machen musst?
Darauf würde ich dir gerne mit einem Gedicht von Martin Niemöller antworten.
,,Als die Nazis die Kommunisten holten, habe ich geschwiegen, ich war ja kein Kommunist.
Als die Nazis die Sozialdemokraten einsperrten, habe ich geschwiegen, ich war ja kein Sozialdemokrat.
Als die Nazis die Gewerkschafter holten, habe ich geschwiegen, ich war ja kein Gewerkschafter. Als sie mich holten gab es keinen mehr, der protestieren konnte.´´
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https://youtu.be/dc3EW7fgqk8
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[Bild:1]
Viel Spaß
mxk
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