Wie spießig ist das denn?

Der Kontrabass im Geigenchor

Singen im Chor ist was für alte Leute in der Dorfkirche? SPIESSER-Autor Henric hat herausgefunden, wie altbacken Chor-Trällerei wirklich ist.

10. April 2015 - 13:10
SPIESSER-Autor Henk Marzipan.
Noch keine Bewertungen
Henk Marzipan Offline
Beigetreten: 22.01.2014

Hundert Füße wippen im Takt. Der Sopran legt sich über die Klänge des Klaviers. Die zweite und dritte Stimme erwarten ihren Einsatz. Aus den Augen von fünfzig Frauen sprüht pure Konzentration. Ich bin mittendrin, blicke in die Noten, hole tief Luft. Gleich zeigt sich, ob meine Stimme zu diesem Engelschor passt. Ja, ich mache es und wage mich als Mann unter die Frauen des Dresdner Chors Chorella.


Bloß gut, dass Henric Gitarre spielt

Wir sammeln uns im leeren Klassenraum. In einer Ecke stehen Notenständer, in der Mitte ein altes Klavier. Mich treffen ungläubige Blicke. „Hast du eine Wette verloren?“, fragt mich eine Sängerin lachend. Nein, ich mache das freiwillig. Sie muss noch mehr lachen. Als ich mich zwischen die Damen setze, packt mich die Aufregung. Ich bin der Hahn im Korb, mich wird man auf jeden Fall hören, wenn ich schief singe. Aber ich bin nicht das erste Mal allein unter Frauen: Ich hatte Französisch-Leistungskurs, da schaff ich das auch!

Chorleiterin Anja gibt Anweisungen zum Aufwärmen: „Alle ziehen das Gesicht zusammen. Dann dehnen wir es so weit aus, wie es geht!“ Bääh! Der ganze Chor reißt die Augen auf und streckt die Zunge raus. Wir sehen aus, wie eine aufgeschreckte Schafherde mit Verdauungsproblemen. Im ersten Moment bin ich verunsichert. Da alle mitmachen, ist es gar nicht albern. Also rolle ich meine Zunge aus und blöke mit.

Wir strecken und dehnen uns noch etwas, dann geht es zum Kern der Sache: singen. Kein Ding! Ich habe in der Schule in Musik gesungen und hole ab und zu bei Partys die Klampfe raus. Doch bei den ersten Tonleitern merke ich, dass Singen offenbar auch mit Übung verbunden ist. Die Damen erreichen Höhen, bei denen mir die Stimme bricht, und Tiefen, bei denen ich klinge wie ein brünstiger Hirsch. Trotzdem gebe ich alles. Meine Nachbarin Jenny lässt mich in ihre Noten blicken: drei Stimmen untereinander, viele kleine Vorzeichen am Anfang der Noten. Dabei handelt es sich um deutsches Liedgut, das ich schon als Kind gehört habe; aber eben mit Jazz! Im Geiste danke ich meinen Eltern für vier Jahre Gitarrenunterricht mit Notenlehre.


Fazit: Singen macht richtig Laune

„Und denkt dran, bei den hohen Tönen muss alle Kraft nach unten“, sagt Anja. „Der Stuhl muss sich wölben!“
– Kopfkino. Ein paar Akkorde auf dem Klavier und mein Bariton mischt sich in die Tonlage der mich umgebenen Frauen. Erst zaghaft, dann lauter – schließlich wippe ich mit. „Das ist eigentlich viel zu dröge, aber zu manchen Anlässen muss das eben sein“, verrät mir Jenny. „Sonst ist das Repertoire wesentlich cooler. Anja hat schon „Haus am See“ von Peter Fox für uns arrangiert. Nicht schlecht.

Keine Ahnung, ob ich gut bin, aber während wir so trällern, fällt mir auf, wie gut die Stimmung ist. Anja reißt alle mit, es wird gelacht und in der Pause geschnackt. „Singen gibt einem viel mehr, als Musik nur zu hören“, sagt mir Anja. Sie muss es wissen, immerhin leitet sie Chöre, seit sie 15 ist. Die Energie der Gruppe hat mich eingefangen.

„Wenn ich hier bin, vergesse ich, was ich sonst für Stress habe“, sagt mir Friederike. Sie und ihre Freundin Edwina-Luisa sind, mit 16 und 17, die Jüngsten der Gruppe: „Chor macht übelst Laune.“ Stimmt. Am Ende der Probe bin ich tiefenentspannt, gut drauf und summe fröhlich die letzten Takte der Lieder vor mich hin. Tja, wenn es kein Frauenchor wäre, würde ich glatt wieder kommen.

Text: Henric Abraham
Fotos: Matthias Popp

Dir gefällt dieser Artikel?

Kommentare

Deine Meinung ist gefragt!
Mehr zum Thema „Wie spießig ist das denn?
  • Onlineredaktion
    Wie spießig ist das denn?

    Deine erste eigene Bude

    Für jeden kommt irgendwann der Tag, an dem man bei den Eltern aus- und in die ersten eigenen vier Wände einzieht. Wir haben hier einige Tipps für euch rund um Wohnungssuche und Umzug.

  • freedy.beedy
    Wie spießig ist das denn?

    Can(‘t) touch this

    Ein Wochenende Tantra Youth Seminar steht mir bevor und noch bin ich mir nicht sicher, was ich erwarten soll. Als ich im August das Seminarzentrum von Sinnesart in Dresden besucht habe, konnte ich schon erste Einblicke gewinnen, aber jetzt soll ich selber…nun ja – anpacken.

  • PaulausMdorf
    Wie spießig ist das denn?

    Kann man einen,
    kann man alle

    Speedcubing, das Lösen von Rubik’s Cubes (oder Zauberwürfeln) auf Zeit, ist eine richtige Sportart mit Wettbewerben und großer Community. SPIESSER-Autor Paul hat Speedcuber Paul Glampe getroffen und sich von ihm in Staunen versetzen lassen.

  • Individuot
    Wie spießig ist das denn?

    Nichts für zarte Nerven

    Konzentrationsverzerrte Gesichter, Schweißausbrüche, Krämpfe in Fingern, Händen und Rücken. Klar, der SPIESSER macht endlich einen Härtetest zum Bomben-Entschärfen! Äh … nicht ganz. Es geht ans Häkeln! Häkeln mit den Masters of Häkeln –

  • millaialfons
    5
    Wie spießig ist das denn?

    Pilze sammeln

    Wie spießig ist das denn? Maria und Milena sind dem Herbst-Hobby Nr. 1 nachgegangen: Pilze sammeln – zur Sicherheit mit einem Experten an der Seite.

  • vickypedia
    Wie spießig ist das denn?

    Wie Treppensteigen,
    nur anders

    Die einen spielen Fußball, die anderen gehen joggen. Und dann gibt es noch so eigenartige Leute, die nach der Arbeit, Uni oder Schule lieber zum Step Aerobic gehen. Spießig oder vielleicht sogar die neue Trendsportart? Es wird Zeit für einen Test! SPIESSER-Praktikantin Victoria hat ihn

  • Miliane
    Wie spießig ist das denn?

    Im Schrebergarten

    Wie spießig ist das denn? Maxi war im Schrebergarten und hat – auch ohne grünen Daumen – einiges dazugelernt. Spießig fand sie es trotzdem, aber schön-spießig!

  • Rubinello
    Wie spießig ist das denn?

    Wer schön sein will, muss laufen

    Spieglein, Spieglein an der Wand – wer ist die Schönste im ganzen Land? Diese Frage stellt sich nicht nur Schneewittchens böse Stiefmutter, sondern auch viele junge Mädchen. Jährlich versuchen hunderte von ihnen ihr Glück bei zahlreichen Schönheitswettbewerben. Peinliches

  • MissFelsenheimer
    Wie spießig ist das denn?

    Gemischte Gefühle

    Jeder kennt ihn und fast jeder war schon von ihm befallen. Die Rede ist vom Liebeskummer. Doch was tun, wenn das Herz schmerzt und die Tränen nicht trocknen? SPIESSER-Autorin Vicky hat’s mal mit Tarotkarten probiert.

  • Ben Edikt
    Wie spießig ist das denn?

    Jetzt mal Butter bei die Fische

    Wer angelt, sitzt stundenlang am Wasser und wartet sich ein Loch ins Bein, meint SPIESSER-Autor Benedikt. Als wir ihn zusammen mit Profi-Angler Gerd auf Frischfisch loslassen, war er dann doch überrascht, wie schnell es zur Sache geht.

  • Individuot
    Wie spießig ist das denn?

    Tschi-What?

    Pssssst! Ihre innere Stimme hat SPIESSER-Autorin Polina bei einem Qigong-Kurs entdeckt und dabei am Räucherstäbchen-Fanclub Gefallen gefunden. Esoterische Langeweile oder entspanntes Runterkommen? Ein klarer Fall für den SPIESSER-Test.

  • TastenMöhre
    Wie spießig ist das denn?

    Rentnerzocken

    Bingo – ein spießiges Mitmachspiel zum Einschlafen? SPIESSER-Autorin Marie hat sich das beliebte Rentner-Ritual mal angeschaut und sich mit 20 Senioren zum Bingo-Nachmittag verabredet.

  • Marghi
    Wie spießig ist das denn?

    Gesellschaftstanz

    Alle können Pogo und auf dem Dancefloor tanzen. Aber wie sieht's mit Wiener Walzer, Tango und Cha Cha Cha aus? Die SPIESSER-Autoren Margherita und Henk waren beim Gesellschaftstanzkurs in der Tanzschule Weise.

  • Anna Kaufmann
    Wie spießig ist das denn?

    Wassergymnastik

    Das Floppen von 20 Badelatschenpaaren, der Geruch nach Chlor, bunte Badenudeln und die von den Wänden widerhallende Stimme des Trainers – so beginnt das Abenteuer Wassergymnastik. SPIESSER-Autorin Anna-Franziska war dabei.

  • mia.
    5
    Wie spießig ist das denn?

    Stricken

    Wie spießig ist das denn? Maria war beim Stricktreff. Was alteomamäßig klingt, war eigentlich ganz unterhaltsam und ziemlich ergiebig. Und nur ein bisschen alteomamäßig.