Von Görlitz im Osten bis nach Isenbruch im Westen: Ein vereintes Deutschland in einem friedlichen Europa ist für mich selbstverständlich. An einem Freitagabend nutze ich die Möglichkeit, Menschen zuzuhören, für die diese Selbstverständlichkeit vor einem Vierteljahrhundert kaum denkbar war. In meiner Familie gibt es keine Erzählungen über die DDR. Ich wurde in Kasachstan geboren und kam erst 1994 nach Deutschland. Daher wurde es allerhöchste Zeit, mein theoretisches Wissen mit ein paar persönlichen Eindrücken aufzupeppen.
Im Dresdner Albertinum waren unter den Gästen
auch viele Jugendliche zu finden. Foto: KAS/Urban
Am 19. Dezember 1989 hielt Helmut Kohl nach eigener Aussage eine der schwierigsten Reden seines Lebens. Nur sechs Wochen nach dem Fall der Mauer sprach der damalige Bundeskanzler vor den Ruinen der Frauenkirche in Dresden zu Zehntausenden und teilte mit ihnen den Wunsch nach deutscher Einheit und Freiheit. Genau 25 Jahre später ist der „Kanzler der Einheit“ erneut in der sächsischen Hauptstadt. Die Konrad-Adenauer-Stiftung erinnert im Dresdner Albertinum an das historische Ereignis und ich bin mit dabei – Geschichte hautnah, wenn man so will. Ich suche mir einen Platz im Pressebereich und beobachte wie nach und nach die geladenen Gäste eintrudeln. Für gewöhnlich liegt der Altersdurchschnitt bei Veranstaltungen wie dieser problemlos über 60 Jahren. An diesem Abend tummeln sich hingegen erstaunlich viele Schülerinnen und Schüler, die deutlich jünger sind als ich.
Die Ankunft Kohls wird von Blitzlicht und dem steten Klicken der Fotoapparate begleitet. Der Medienrummel lenkt automatisch meine Aufmerksamkeit auf den einzigen noch lebenden Ehrenbürger Europas. Das Alter hat Kohl gezeichnet, das Sprechen fällt ihm schwer. Nichtsdestotrotz ist er hier, um das Schlusswort des Abends zu halten. Davor sind jedoch andere an der Reihe: neben Wolfgang Schüssel, österreichischer Bundeskanzler a.D., loben der sächsische Ministerpräsident Stanislaw Tillich und die Dresdner Oberbürgermeisterin Helma Orosz Kohls Verdienste. Die anderthalb Stunden vergehen für mich erstaunlich schnell und kommen einem Crash-Kurs zur deutschen Wendezeit gleich – ein Thema, das in meinem Geschichtsunterricht deutlich zu kurz kam.
Sind wir das Volk?
Eines ist aber schon aus Schulzeiten hängen geblieben: der Ruf „Wir sind das Volk“. 1989 hallte er durch die Straßen und richtete sich gegen die SED-Diktatur. Seit einigen Wochen hört man die Parole von PEGIDA-Demonstranten, die Woche für Woche ihre Angst vor dem Islam und ihren Frust über die Asylpolitik kundtun. Ich war überrascht, dass der ehemalige Präsident des Europäischen Parlaments Hans-Gert Pöttering bei seiner Begrüßung bereits nach wenigen Sätzen klar Stellung bezog. Seiner Meinung nach, ist die Ablehnung von Menschen, die zu uns kommen und unsere Hilfe brauchen weder patriotisch noch europäisch.
Tausende frustrierte Menschen gehen auf die Straßen, beziehen sich auf Europa und sehnen sich eigentlich nach einem kleinen, überschaubaren Deutschland. Für meine Generation jedoch ist die deutsche Teilung nur noch ein Kapitel im Geschichtsbuch. Doch was bedeutet dieses viel beschworene Europa eigentlich für diejenigen, die kaum noch wissen, was Zollkontrollen sind?
Dem Kanzler der Einheit gehörte an diesem Abend
das Schlusswort. Foto: KAS/Urban
Maura und Mascha, beide 15 Jahre alt und als Teilnehmerinnen auf der Veranstaltung, kommen sofort die Begriffe „Freiheit“, „grenzenlos“, „offen“ und „multikulturell“ in den Sinn. Für Benedikt, 17, bedeutet Europa „vor allem, dass alle zusammen leben – in Frieden“. Der Abiturient Paul, 18, ist eher zwiegespalten: Auf der einen Seite sei grenzenlose Freiheit, aber auf der anderen auch große Unsicherheit. „Heute sind alle voneinander abhängig, Schwankungen beeinflussen alle.“ Auf die Frage, ob er sich als Deutscher oder Europäer sieht, antwortet er sofort: „Als Deutscher.“ In seinem Schlusswort bedankt sich Helmut Kohl bei all denen, die den Wandel ermöglicht haben. „Es waren Hunderttausende, die geholfen haben, dass wir diesen Weg beschreiten konnten.“ Am Ende ertönt die Nationalhymne. In diesem Moment fühle ich mich doch etwas deplatziert. Das Besingen des „deutschen Vaterlandes“ liegt mir einfach nicht und weckt eher negative Assoziationen. Ich lebe zweifellos gerne in Deutschland, hier ist mein Zuhause. Doch wenn man mich fragt, bin ich Europäerin.
Text: Anastasia Bass
Teaserfoto: flickr-User Marcus Rahm (CC BY-NC-SA 2.0), Bild bearbeitet