Was ist Privatsphäre? In Zeiten von Algorithmen und staatlicher Überwachung fällt es schwer, darauf eine Antwort zu finden. Diese Mission führte mich zu Bijan Moini, einem jungen Juristen und aufstrebenden Buchautor.
Je länger ich über die Privatsphäre nachdachte, desto schwammiger wurde meine Vorstellung. Das Bild von einem sicheren Raum, in dem nur ich mich uneingeschränkt bewegen kann, wurde durch Großkonzerne wie Facebook, Amazon oder Google mächtig durcheinandergewirbelt. Klar, diese Erkenntnis ist weder neu, noch bahnbrechend. Aber bei näherer Betrachtung zeigten sich immer mehr Aspekte auf, die ich nie beachtet habe: Wieso kommt auf Instagram Werbung zu Rasenmähern, wenn ich viel darüber spreche? Belauscht mich Alexa auch auf der Toilette? Wie lange wird es wohl noch dauern bis zur absoluten Transparenz? Es waren Fragen wie diese, die mir alles zu Kopf stiegen ließen. Letztlich wurde es einfach zu viel. Und während ich weiter im Dunkeln tappte, fiel mir das Erstlingswerk von Bijan Moini „Der Würfel“ in die Hände. Der Roman des Juristen, welcher im Februar dieses Jahres für Furore sorgte, greift den Gedanken der absoluten Transparenz auf und führt ihn fort. Was geschieht mit einer Gesellschaft, in der ein Algorithmus alle Entscheidungen aufgrund gesammelter Daten vorhersagen kann? In seinem Buch diskutiert Bijan die Frage, ob uneingeschränkte Transparenz unwiderruflich in einer Dystopie münden muss und erwies sich deshalb als idealer Ansprechpartner für meine Fragen.
Wir verlosen drei signierte Buchexemplare des
Erstlingswerks von Bijan Moini!
Bijan, was umfasst, deiner Meinung nach, die Privatsphäre eines Menschen?
Ganz grob kann man sagen: All das, wovon wir nicht wollen, dass es jeder weiß. Das können z. B. Dinge wie die sexuelle Orientierung, Gespräche mit meinen Eltern, aber auch mein Kontostand oder meine Krankheitsgeschichte sein.
Gab es denn Situationen, in denen du dich mal in deiner Privatsphäre verletzt gefühlt hast?
Es gibt da eine Situation, die mir persönlich sehr in Erinnerung geblieben ist: Als ich meinen Zivildienst in einer Drogenberatung absolvieren wollte, musste ich dafür eine Urinprobe beim Gesundheitsamt abgeben. Der Beamte dort wollte bzw. musste mir beim Pinkeln zusehen, was ich schon als ziemlich krassen Eingriff empfand.
Wie sieht es mit privaten Räumen im elterlichen Haushalt aus? Ist die Forderung von Jugendlichen nach mehr Freiraum zu Hause gerechtfertigt?
Das eigene Zimmer ist ein Schutzraum, in den Eltern nicht ohne triftigen Grund eintreten dürfen. In der Praxis ist es wahrscheinlich das Beste, sich auf bestimmte Regeln zu einigen und auf die Einhaltung zu pochen, weil man sowas nicht vor Gericht regeln kann und will. Bei Internetfiltern ist es ähnlich. Für junge Kinder sind sie sicher sinnvoll, aber man muss mit steigender Reife auch Eigenverantwortung zulassen.
Bijan Moini
wollte ursprünglich Diplomat werden, hat dann aber doch die Laufbahn eines Rechtsanwalts eingeschlagen. Neben Jura hat er Politikwissenschaft studiert und sich in seiner Doktorarbeit mit einem möglichen Internetpranger für Sexualstraftäter auseinandergesetzt. Parallel zu seiner Schriftstellertätigkeit ist er bei der Gesellschaft für Freiheitsrechte beschäftigt. Die Inspiration für „Der Würfel“ stammt noch aus seiner Zeit als Wirtschaftsanwalt. Während dieser hat er sich mit Legal Tech Unternehmen wie Flightright auseinandergesetzt und gefragt, wie sich eine Gesellschaft ändert, wenn immer mehr Aufgaben von einer künstlichen Intelligenz übernommen werden.
Immer häufiger halten auch Alexa, Siri oder Google Assistent in Haushalten Einzug. Wie privat sind wir in den eigenen vier Wänden mit Sprachassistenten?
Überhaupt nicht mehr, aber weniger wegen der Abhörsicherheit. Natürlich muss ich damit rechnen, dass Kriminelle sich einhacken, aber eigentlich sind die IT-Konzerne noch bedenklicher. Sie verarbeiten alles, was sie über Alexa und Co. erfahren, zu umfassenden Persönlichkeitsprofilen. Amazon hat beispielsweise offen zugegeben, Gespräche mit Alexa von Menschen analysieren und auswerten zu lassen.
Im Internet sind wir so anonym wie nie und geben doch massenhaft Daten preis – wie sollten wir mit diesem Paradoxon umgehen?
Das sind die beiden Sphären, die man unterschieden muss: Es ist wichtig, dass unser Umfeld nicht weiß, was wir im Internet tun, aber auf der anderen Seite sind da diverse Konzerne, die das alles sehr wohl wissen. Es ist extrem wichtig, sich das bewusst zu machen, weil es keine Garantie gibt, dass die eigenen Informationen geheim bleiben.
Durch Instagram und YouTube wird es auch immer schwieriger zu entscheiden, wann eine Person von öffentlichem Interesse ist. Kann man da eine Grenze ziehen?
Es gibt heute sicherlich viel mehr Personen des öffentlichen Lebens, weil es einfacher geworden ist, sich Öffentlichkeit zu verschaffen. Wer Millionen Follower hat, ist sicher von öffentlichem Interesse. Das Gleiche gilt für Personen, die öffentliches Aufsehen erregen, wie z. B. Rezo durch sein Video. Fixe Grenzen kann man da nicht ziehen.
In deinem Roman „Der Würfel“ kann der namensgebende Algorithmus die Entscheidungen der Menschen vorhersagen. Ähnliches geht stellenweise jetzt schon. Wie viel Würfel steckt bereits in unserer Gesellschaft?
Ich glaube viel mehr, als den Menschen bewusst ist. Das war auch ein Motiv, dieses Buch zu schreiben, um eine Diskussionsgrundlage zu schaffen. Konzerne stecken bereits seit Jahren extrem viel Energie in die Analyse unserer Persönlichkeit, um herauszufinden, wann wir welches Produkt kaufen. Inzwischen machen das auch Staaten, wodurch wir immer stärker vermessen werden. Wir werden zu Objekten reduziert.
Zu Objekten machen wir uns auch durch Videoüberwachung und Gesichtserkennung, wie sie immer wieder in Deutschland gefordert wird. Was sagst du dazu?
Ich bin kein fundamentaler Gegner von Videoüberwachung. Zumindest an Orten, an denen eine erhöhte Anzahl an Straftaten nachgewiesen wurde. Aber man braucht eine erwartete Begründung, dass diese Gefahren durch Videokameras eingedämmt werden können. Bei Gesichtserkennung bin ich total skeptisch, weil das für mich ein Schritt zur totalen Überwachung der Bevölkerung ist. Bei flächendeckendem Einsatz kann man nicht mehr privat bleiben, weil genaue Bewegungsprofile erstellt werden können. Das macht etwas mit der Gesellschaft, was ich nicht gut finde.
Überwachung ist auch in China ein großes Thema. Dort soll 2020 das Sozialkreditsystem an den Start gehen, welches Bürger nach ihren Handlungen mit Punkten bewertet. Wie groß ist deine Angst davor, dass andere Länder dieses Konzept übernehmen?
Relativ groß, weil China bereits viel Überwachungstechnologie exportiert. Es ist absehbar, dass dann in Ländern wie Venezuela eine Form von Sozialkreditsystem eingeführt wird. Deshalb aber nur den Finger auf China zu zeigen, ist zu wenig. Bei uns greifen eben Konzerne wie Facebook und Google in alle Lebensbereiche ein, und auch demokratische Regierungen wie unsere überwachen ihre Bürger immer stärker. Deshalb wäre ich vorsichtig damit, uns als die Liberalen und Guten darzustellen.
Dennoch ist der Würfel in deinem Roman nichts per se Schlechtes. So ermöglicht er ein Grundeinkommen. Kann auch heute eine erhöhte Transparenz neue Möglichkeiten für die Gesellschaft schaffen?
Genau diese Diskussion steht im Zentrum des Buches. Inwiefern sind die Vorteile einer erhöhten Transparenz gerechtfertigt gegenüber dem Verlust an Freiheit. Für mich ist das klar zu beantworten: Ich will keine absolute Transparenz, nur damit es absolute Sicherheit gibt. Aber das ist eine Frage, die jeder persönlich beantworten muss: Will ich eine Welt, in der man völlig frei von Sorgen lebt, aber nicht mehr wirklich frei ist?
Text von Duc Hai Le, 22, kocht 5-Minuten-Terrinen in 4 Minuten, ist Mitglied beim Dresden Escort Service (kein echter Escort Service). Fotos von Claudia Araujo, begann ihre Arbeit als Fotografin in Rio de Janeiro, widmet sich seit 2017 in Berlin der Mode- und Portraitfotografie. Teaserbild: Paula Hohlfeld
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