SPIESSER Finden Sie, folgender Spruch trifft zu: „Wenn die Schule Mobbing hinnimmt, tun die Schüler das auch“?
Mechthild Schäfer Ja, keine Frage.
Und warum wird Mobbing in der Schule trotzdem so oft heruntergespielt?
Die Schulen wissen einfach oft nicht, wie man mit der Problematik umgehen muss. Natürlich gibt es viele Lehrer, die tatsächlich sehr effizient etwas gegen Mobbing unternehmen. In der Regel ist es aber leider so, dass unsere Lehrerausbildung die notwendigen Kompetenzen nicht ausreichend vermittelt. Das heißt, die Lehrer können das Problem weder erkennen noch verstehen.
Die Psychologin Dr. Mechthild Schäfer ist
Expertin zum Thema Mobbing im Bereich der
Entwicklungspsychologie. An der Ludwig-
Maximilians-Universität in München leht sie als
Privatdozentin am Department für Psychologie.
In Ihrem Buch „Du Opfer!“ beschreiben Sie Mobbing als Phänomen mit vielen verschiedenen Elementen, welche gehören dazu?
Im Allgemeinen gibt es vier verschiedene Formen: körperliches, verbales, psychologisches Mobbing und das Cybermobbing. Das Körperliche ist langfristig gesehen wahrscheinlich das harmloseste. Unter verbales Mobbing fallen alle Äußerungen, die degradieren und dem Angegriffenen zeigen: „Wir können es mit dir machen.“ Das kann auch ein Spitzname sein, den man nicht mag. Bei dieser Form von Mobbing erlebt man eine komplette Hilflosigkeit, weil andere sich die Freiheit herausnehmen einen zu triezen. Das gleiche Phänomen gibt es auch auf psychologischer Ebene zum Beispiel über das Verbreiten von Gerüchten. Eine andere, neuere Form ist Cybermobbing. Hier geschieht eigentlich das Gleiche, wie auf dem Schulhof, nur nutzen die Täter eine andere Technik. Das Schlimme dabei ist, dass es nicht mehr aufhört. Früher konnte man das Ganze noch auf die reine Zeit in der Schule begrenzen. Jetzt geht es auch danach weiter. Den ganzen Tag. Die ganze Nacht. Und eben auch, wenn man selbst gar nicht am Computer ist.
Ist Mobbing ein typisches Schülerproblem?
Nein, ist es nicht. Allerdings werden in der Schule die strukturellen Voraussetzungen erfüllt: Mobbing ist ein Problem von festen Gruppen. Das heißt von Gruppen, die man nicht frei gewählt hat und von solchen, aus denen man nicht ohne weiteres herauskommt. In einem Sportverein beispielsweise ist das anders. Fühlt man sich dort nicht wohl, geht man. In der Schule ist das nicht so einfach.
Ein anderes Problem ist natürlich die starke Hierarchie an einer Schule. Legt ein Schulleiter keinen Wert auf das harmonische Klima, wird er schnell Fälle von Mobbing feststellen. Denn so wie der Schulleiter mit den Kollegen und Schülern umgeht, so tun es auch die Kollegen mit den Kollegen, die Kollegen mit den Schülern und schließlich die Schüler untereinander.
Gibt es „typische“ Profile von Angegriffenen?
Nein, eben nicht. Alle Studien zeigen, egal welche Eigenschaften ein Kind hat: Grund für Mobbing ist immer die relative Position in der Klasse. Das heißt, das gleiche Kind könnte in einer anderen Klasse sein und es würde nichts passieren.
In einer Längsschnittstudie haben wir herausgefunden, dass eine Opferrolle in der Grundschule keine Vorhersage darüber erlaubt, dass man in der weiterführenden Schule wieder gemobbt wird. Anders sieht es da bei den Tätern aus: Wer bereits in der Grundschule Täter war, hat ein zweifaches Risiko, auch in der weiterführenden Schule wieder zu mobben. Denn die werden ja mit Erfolg belohnt und wenn keiner ihr Treiben stoppt, machen sie einfach weiter.
Wer ist verpflichtet, etwas gegen Mobbing zu unternehmen?
Die Lehrer und die Schule. Wir haben Schulpflicht, daraus ist eine Fürsorgepflicht ganz klar abzuleiten. Ähnliches steht über das Recht auf körperliche und seelische Unversehrtheit in unserem Grundgesetz. Nur die, die im Schulsystem aktiv sind, können auch etwas tun.
In ihrem Buch "Du Opfer" betrachtet
Mechthild Schäfer das Phänomen
Mobbing aus Sicht der Angegriffenen,
der Täter, der Eltern und der Lehrer.
Ihren Erkenntnissen zufolge, bilden die Außenstehenden und die Verteidiger eine Mehrheit gegen die Täter von Mobbing. Warum können diese beiden Gruppen allein den Prozess dennoch nicht stoppen?
Allgemein haben die Verteidiger immer das Potenzial Mobbing zu unterdrücken. Wenn sie es aber nicht schaffen, sich gegen die Aggressiven durchzusetzen und von den Lehrern keine Unterstützung erfahren, kann es passieren, dass die Verteidiger einfach aufgeben.
Die Außenstehenden sind eine sehr interessante Gruppe, weil 25 Prozent von ihnen Verteidigerpotenzial haben. Ihnen muss man allerdings erst mal zeigen, wie man effizient etwas tun kann, damit Mobbing gestoppt wird. Ansonsten denken sich die Außenstehenden, dass sie in den Prozess nicht involviert sind, was natürlich nicht stimmt. Denn wir wissen, dass auch das Nichtstun, wie eine Verstärkung auf die Täter wirkt.
Beide Gruppen, Verteidiger und Außenstehende, brauchen also eine Anleitung und Unterstützung, die von Seiten der Lehrer kommen muss.
Was raten Sie Schülern, die Mobbing sehen oder erfahren?
Das ist ganz schwierig. Die Betroffenen können leider immer nur Nutznießer von Aktionen auf anderer Ebene sein. Sie selber können nahezu gar nichts tun. Darum ist es auch wichtig, den Angegriffenen zu sagen: „Du bist nicht schuld!“. Es ist ganz egal, wie die Betroffenen auf die Angriffe reagieren, sie können lächeln, weinen, zurückschlagen. Die Täter instrumentalisieren ihre Reaktionen immer so, wie sie sie brauchen.
Welche Möglichkeiten haben sie, um die Angriffe zu beenden?
Im Zweifelsfall muss man die Schule wechseln, auch wenn das eigentlich eine schlechte Strategie ist. Ein Schulwechsel signalisiert den Tätern ein falsches Bild. Womöglich suchen sie sich einfach ein neues Opfer. Außerdem ist ein Schulwechsel für den Schüler, der schon angeschlagen ist, die schwierigste aller Situationen. Das ist für ein normales Kind schon nicht leicht – für ein emotional und sozial geschwächtes, ist das fast gar nicht machbar.
Eine der letzten Möglichkeiten, die schließlich die Eltern haben, ist eine Dienstaufsichtsbeschwerde, welche die Schule zum Handeln zwingt. Davon können dann womöglich auch noch andere Kinder profitieren, die noch an der Schule sind. Aber diese sollte man natürlich nicht im Sinne von Rache einsetzten, sondern vielmehr als letztes Mittel einer Verantwortung für das Allgemeinwohl, wenn eine Schule einfach nicht handeln will.
Welches ist Ihrer Erfahrung nach das effektivste Mittel zur Bekämpfung von Mobbing?
Das effektivste Mittel ist Prävention und das leisten wir uns bisher noch nicht. Das wären beispielsweise Notfallpläne, wie es sie unter anderem schon für Amokläufe gibt. Wenn also jemand gemobbt wird, dann muss das, das und das passieren. In einigen Bundesländern gibt es wohl bereits so eine formale Vorgehensweise, aber die sind sicher noch nicht abschließend gut.
Die Angegriffenen allein können sich aus ihrer
Lage nicht befreien – sie sind auf die
Unterstützung der Lehrer angewiesen.
Was halten Sie von dem Konzept der Streitschlichter an Schulen als Instrument gegen Mobbing?
Streitschlichter sind klasse, helfen aber leider nicht bei Mobbing. Denn dabei geht es nicht um Streitigkeiten, sondern um Dominanz in der Klasse. Da müssen ganz einfach die einschreiten, die mächtiger sind und das sind in erster Verantwortung die Lehrer. Die müssen einfach ihren Job machen.
Wie wirkt es auf Kinder und Jugendliche in einem Rechtsstaat, wenn sie sehen, dass in ihrer Schule grundlegende Rechte ohne wirkliche Konsequenzen verletzt werden?
Es desensibilisiert. Befragt man Schüler zu Mobbing, sagen ungefähr 80 Prozent, dass sie es absolut ätzend finden. Gehen die gleichen Kinder aber in eine Klasse, scheinen andere Regeln zu gelten. Einfach weil die Schüler dort unter das soziale Gesetz einer Gemeinschaft fallen.
Welche Konsequenzen kann Mobbing in der Schule auf die weitere Entwicklung eines Menschen haben?
Wir wissen, dass man bei einem Kind, dass nur in der Grundschule gemobbt wurde und in der weiterführenden Schule nicht mehr, mit wenig Konsequenzen oder Langzeitschäden rechnen muss. Anders ist das bei Kindern, die in der weiterführenden Schule gemobbt werden – egal, ob sie bereits in der Schule damit kämpfen mussten oder nicht. Hier muss man durchaus mit etwas wie einem Mini-Trauma rechnen. Das liegt daran, dass der Umgang mit Gleichaltrigen für die kognitive, emotionale und soziale Entwicklung sehr wichtig ist. Wird man nun während der ganzen weiterführenden Schulzeit gemobbt, fehlt einem der Umgang mit Gleichaltrigen und dieses Defizit kann man im weiteren Leben nicht mehr aufholen. Diese Phase gibt es im Leben nicht noch einmal.
nach-der-tat.de – ein Mitmach-Projekt der Werner Bonhoff Stiftung, Berlin, in Kooperation mit SPIESSER.
Text: Tabea Grünert
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Ludwig-Maximilians-Universität in München,
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