Es ist Donnerstagnachmittag kurz nach fünf in der beinahe leeren SPIESSER-Redaktion. Doch in einer Ecke brennt noch Licht. Dort sitzen sechs Menschen zusammen, um über das Thema „Glaube“ zu reden. Sie sind verschieden, aber jeder glaubt an etwas: Katja, deren Ur-Oma in Auschwitz umgekommen ist, Mohamed, der als Sohn muslimischer Eltern in Saudi-Arabien geboren wurde, Rentner Hans-Jürgen, der sich zum Protestantismus bekennt, und die Schüler Lilly und Vincent, die beide in die 9. Klasse gehen.
Glaube ist also bei allen ein Thema, oder? „Doch, es ist präsent“, sagt die 15-jährige Lilly. Unter ihren Mitschülern sind einige sehr gläubig und „manche kriegen von ihren Eltern gesagt, dass sie in den Religionsunterricht müssen“. Ihr Mitschüler Vincent ergänzt: „Wenn man viele Tests schreibt, dann muss man auch an sich selber glauben.“ Glaube scheint also auch eine Form von Selbstbewusstsein oder das Vertrauen in sich und andere zu sein.
Schüler, schreibt nebenbei für die Schülerzeitung
Glaube: Er ist evangelisch getauft und konfirmiert, besonders seiner Mutter ist das sehr wichtig. Er geht in den evangelischen Religionsunterricht.
Aber Glaube kann noch etwas anderes: Er versucht, eine Erklärung zu finden für scheinbar Unerklärliches: Was bringt die Zukunft? Gibt es einen Sinn? Existieren Außerirdische? „Das kann man nicht wissen, man kann es nur glauben“, wirft Hans-Jürgen ein. Der pensionierte Bäckermeister bezeichnet sich selber als praktizierenden evangelischen Christen. Er geht aber nicht jeden Sonntag in die Kirche, sondern wendet seinen Glauben im Alltag an: zeigt Nächstenliebe und tritt anderen Menschen offen gegenüber. Gezweifelt hat er an seinem Glauben nie. Gerade in persönlichen Krisen hat der Glaube ihm Halt gegeben: „Man kann nicht tief fallen, irgendjemand fängt einen auf“, fügt er hinzu.
Rentner, war 40 Jahre Bäckermeister mit eigenem Betrieb
Glaube: Er nennt sich selber einen „praktizierenden evangelischen Christen“ und findet es „das Normalste der Welt“, einen Glauben zu haben.
„Ich habe das alles nie gefühlt“
Diese Sicherheit hatte Mohamed nicht immer. Der heute 29-jährige wuchs in Saudi-Arabien
auf und besuchte dort parallel zur Schule auch eine Koranschule. „Ich habe mein ganzes Leben Probleme damit gehabt, wie der Glaube praktiziert wird“, sagt er heute und fügt hinzu: „Ich habe das alles nie gefühlt.“ Er hat höchstens vor Prüfungen gebetet, sich aber nie als Muslim bezeichnet. „Dann bin ich hergekommen und musste immer Fragen beantworten. Der Islam ist ein großes Thema heute“, beschreibt er seine Erfahrungen. Dabei wirkt er sehr emotional, das Thema scheint ihn zu bewegen. Die anderen in der Runde nicken andächtig. Mohamed, der als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der TU Dresden arbeitet, sagt: „Ich habe diese Fragen irgendwann nicht mehr beantwortet, weil ich keine Lust hatte, mich ständig zu rechtfertigen.“
wissenschaftlicher Mitarbeiter an der TU Dresden
Glaube: Er wuchs in Saudi-Arabien auf und wurde muslimisch
erzogen, seinen Glauben nennt er heute ein „Fragezeichen“.
Das Gefühl, sich rechtfertigen zu müssen, kennt Katja gut. Wenn sie erwähnt, dass sie einen jüdischen Hintergrund hat, wollen Leute von ihr wissen, wie sie zur Politik Israels steht. Dabei hat für sie alles mit einer anderen Frage angefangen. Als Teenager wollte sie wissen, warum sie keine Ur-Oma mehr habe. „Deine Ur-Oma ist in Auschwitz umgekommen und jetzt frag’ deine Oma mal nicht weiter“, bekam sie zur Antwort. An dieser Stelle fingen ihre Fragen erst an. Auch deswegen sucht sie heute den Kontakt zur jüdischen Gemeinde. Die ist wie eine „riesige Familie“, sagt Katja lächelnd. Die Menschen kümmern sich gegenseitig umeinander, das gefällt ihr.
„Es ist wie bei McDonalds“
Und noch etwas ist Katja aufgefallen: „Man kann überall hingehen und weiß: Wenn ich jetzt in die Synagoge gehe, dann kommt dieses Gebet.“ Solche Rituale bieten Sicherheit und Zuflucht. Die Studentin vergleicht das mit dem Gang ins Fast-Food-Restaurant: „Es ist wie McDonalds, du weißt überall auf der Welt, was du kriegst.“ Gelächter in der Runde, aber auch Zustimmung. Lilly und Vincent wenden ein, dass es wichtig ist, über Glaube Bescheid zu wissen. Das gehört zur Allgemeinbildung. Denn nur durch das Wissen – da ist sich die Runde einig – kann Toleranz füreinander entstehen. „Das Wissen vieler Menschen über Religionen ist erschreckend“, findet Hans-Jürgen.
Studentin
Glaube: Sie hat jüdische Wurzeln und möchte sich mit ihrer Familiengeschichte auseinandersetzen.
Auf Weihnachten freuen sich aber nicht alle. Für Lilly „gehört Weihnachten eben dazu“ und Hans-Jürgen ist es wichtig, dass den Menschen wieder mehr der Grund für das Weihnachtsfest bewusst wird. Katja hingegen mag das Fest gar nicht: „Die Familie hockt aufeinander, deine Freunde sind nicht erreichbar, eigentlich gibt’s nur Stress, weil sich jeder auf den Keks geht und du bist froh, wenn es vorbei ist.“ Mohamed hat in zehn Jahren, die er in Deutschland ist, auch schon einige Weihnachtsfeste erlebt. „Die islamischen Feiertage feiere ich auch“, sagt er. „Ich habe das mein ganzes Leben gemacht und nur, weil ich den Glauben aufgegeben habe, werde ich nicht solche Momente aufgeben.“ Glaube, das wird spätestens an dieser Stelle klar, ist eben auch etwas sehr Persönliches und lebt davon, dass es von jedem Einzelnen von uns mit Leben gefüllt wird.
Schülerin
Glaube: Sie fühlt sich keiner Religion zugehörig, aber glaubt, dass es schon „etwas“ gibt und findet es wichtig, über Religion Bescheid zu wissen. Sie besucht den Ethikunterricht.
Mittlerweile liegt die ganze Redaktion im Dunkeln. Einig sind sich alle, dass Glaube und Religion nicht ein- und dasselbe sind, auch wenn sie Schnittmengen haben. Definitiv sind sie aber Teil der Kultur, prägen unser Verhalten und unsere Werte. Es lohnt sich also, sich näher damit zu beschäftigen, nicht nur mit dem eigenen Glauben.
Text: Jan Duensing
Fotos: Norbert Neumann
Teaser: Lena Schulze