Vor einem Jahr noch war ich ein sehr introvertierter Mensch. Ich verbrachte meine Wochenenden lieber mit Lesen, Lernen und früh zu Bett gehen. Mir war mein Leben genug. Ich vertrat überzeugt meine Werte: Ich trank keinen Alkohol, aß kein Fleisch und auch nichts Süßes. Ich spielte Gitarre, malte viel und trieb Sport. Ich war mir meiner selbst bewusst, veränderte mich nicht und blieb immer dem treu, was ich für richtig hielt. Im Sommer erreichte ich dann meine Volljährigkeit und unerwarteterweise drehte sich mein Leben um 180 Grad.
Wie ich meine Loyalität verlor
Da ich nun mobiler war, verbrachte ich viel mehr Zeit mit Menschen als je zuvor. Ich erhielt völlig neue Impulse von außerhalb und blühte richtig auf – äußerlich betrachtet, während ich innerlich langsam verkümmerte. Ich fing an, mich bewusster zu kleiden, kaufte viel zu große Secondhand-Hemden und aus meinem kurzen Bob wurden langsam lange Haare. Ein Hemd in Größe XL an einem 1,58 Meter großen Mädchen klingt zwar nicht besonders anschaulich, doch kombiniert mit einer engen Jeans und lässig getragen sah ich echt fesch aus. Durch meinen neuen Style erhielt ich häufig Komplimente für mein Aussehen. Ich lief erhobenen Hauptes durch die Welt und fühlte mich selbstsicherer denn je.
Mehr auf mein Äußeres bedacht, fing ich mit der Zeit unbewusst an, mein Inneres zu ändern. Ich änderte und lockerte meine Ansichten bezüglich vieler Dinge. Das frühe Schlafengehen wurde immer seltener und stand vorher noch die Schule im Fokus, so prangte dort nur noch ganz groß „Leben“. Bald traf ich mich mit einem Jungen. Ich besuchte ihn jedes Mal nach der Arbeit und fuhr erst spät nachts nach Hause. Langsam legte ich auch unter der Woche nächtliche Ausflüge ein. Damit das auch möglich war, begann ich, das Auto meiner Eltern unter falschen Vorwänden auszuleihen. Ehe ich mich versah, hatte ich mich innerhalb weniger Monate komplett verändert. Ich trank Alkohol, schlief wenig und bewegte mich kaum noch. Gleichzeitig wurde ich unehrlich, belog meinen Vater, meine Freunde und mich selbst.
Wie sich Selbstbetrug anfühlt
Wenn man einmal verstanden hat, dass man sich selber hintergeht, fühlt es sich an wie ein Schlag mit voller Wucht mitten ins Gesicht. Anfangs leugnete ich meine Veränderung und gestand mir nicht ein, dass jener Weg, den ich eingeschlagen hatte, mir nicht guttat. Je weiter ich es trieb, desto schlechter fühlte ich mich. Ich war dauernd mies gelaunt, fühlte mich unsicher und wollte nichts mehr mit Freunden machen. Ich stand am Abgrund und rutschte langsam tiefer, ohne zu wissen warum.
Es fühlte sich an, als hätte ich all meine Werte verloren, Achtsamkeit und Aufmerksamkeit waren verschwunden. Durch das schnelle Leben vernachlässigte ich mich selbst, denn ich sehnte mich mehr nach der Anerkennung der anderen. Fühlte ich mich nicht genug wertgeschätzt, wurde ich nachtragend und gleichzeitig stellte ich mich selbst an den Pranger: Ich machte mir Vorwürfe wegen meines Verhaltens und meiner Abhängigkeit. Denn rückblickend betrachtet handelte ich meistens aus Abhängigkeit von der Aufmerksamkeit anderer, weil ich mir selbst keine Aufmerksamkeit mehr schenkte.
Ich fühlte mich wie eine verkümmerte Zimmerpflanze, die frische Luft zum Atmen brauchte. Ich war eingeengt, gefangen in meinem Kopf, der mich zunehmend verurteilte. In mir herrschte eine tiefe Unruhe und langsam zeigte sich meine Unachtsamkeit sogar physisch. Ich war dauermüde, hatte Magenbeschwerden und fühlte mich schlapp. Ich benötigte fünf Monate, um zu erkennen, dass ich mich selbst hinterging.
Der Weg bis zur Erkenntnis war hart, der bis zur Einsicht noch härter. Am härtesten jedoch ist das Verzeihen. Und wie ich gerade hier auf dem Bett sitze und mir meine Untreue eingestehe, weiß ich, dass noch ein Haufen Arbeit vor mir liegt.
Text: Rebecka Juchems, 18, schrieb einfach drauf los und kreierte einen ihrer persönlichsten Texte.
Teaserbild: Photo by Mathieu Stern on Unsplash