Wir sitzen an einem Julisonntag im Biergarten eines alternativen Jugendzentrums in Nürnberg, einem der wenigen Orte hier, an denen legal gesprayt werden darf. 18 Schüler des „Christoph-Jacob-Treu-Gymnasiums Lauf“ haben sich zu einem Graffiti-Workshop versammelt. Um auf die Situation funktionaler Analphabeten aufmerksam zu machen, sprühen wir heute gemeinsam ein vollständiges Alphabet.
Die Sozialpädagogin Dorothee Dietz erzählt der Gruppe, dass in Deutschland ungefähr jeder siebte Erwachsene ein funktionaler Analphabet ist. So viele? Wir haben in Deutschland doch die Schulpflicht. Im Grunde steht hinter jedem Betroffenen ein Einzelschicksaal. Die meisten haben aus verschiedenen Gründen irgendwann in ihrer Kindheit den Anschluss an den Schulstoff verloren. Probleme im Elternhaus, eine längere Krankheit, nicht ausreichende Förderung durch das persönliche Umfeld oder schlichtweg die Tatsache Deutsch nicht als Muttersprache zu haben.
Ist erst einmal ein Defizit aufgebaut, geraten viele Betroffene durch Frustration, geringes Selbstvertrauen und Scham in einen Teufelskreis. Wer nicht ausreichend lesen und schreiben kann, ist auch in der Teilhabe am gesellschaftlichen Miteinander eingeschränkt. „Dann kann man gar nicht chatten – wie doof“, meint Tom.
Auch in der Street Art-Szene dreht sich vieles um Kommunikation. Die schnelle Technik, große Gestaltungsfreiheit und intuitive Sprache machen Graffiti zum idealen Massenmedium im öffentlichen Raum. Bevor es an die Sprühdosen geht, bekommen wir von iCHANCE noch T-Shirts mit der Aufschrift „Du kannst nix (dafür)“. Ein Teil der Kampagne, die Betroffene motivieren und die Gesellschaft informieren und sensibilisieren soll. „Es ist generell besser sich seinen Problemen in jungen Jahren zu stellen. Jungen Menschen fällt das Lernen leichter. Außerdem stecken sie noch nicht so tief in einem System aus Vermeidungsstrategien, Verschleierung und Frustration fest“, sagt Pascal von iCHANCE. Was hat Graffiti mit Alphabetisierung zu tun, möchte ich wissen. „Graffiti als Kunstform ist kreativ, kommunikativ und stark schriftbasiert. Wir wollen jungen Menschen zeigen, was für tolle Möglichkeiten sich durch das Lesen und Schreiben im Leben ergeben.“
SPIESSER-Autorin Katrin legt los.
Foto: Pascal Busche, iCHANCE
Nach einigen Übungen mit Markern auf Papier und einem kurzen Theorieteil zur Sprühtechnik, geht es auch schon an die Wand. Wir arbeiten in Zweierteams und sind mit Schutzhandschuhen sowie Atemmasken ausgerüstet. Ich bin reichlich erstaunt, als sich abzeichnet, wie viel Technik selbst hinter einfachstem Style-Writing steckt, um eine gerade, gleichmäßige und scharfe Linie hinzubekommen. Carlos ermutigt uns, bei ihm habe es zwei Jahre gedauert, bis eine gerade Linie aus der Dose kam.
Als wir beginnen das Alphabet umzusetzen herrscht reges Treiben an den Kisten mit den Sprühdosen und Markern. Jeder hat eigene Ideen, die jetzt voll Tatendrang auf die Leinwände gebracht werden. Carlos steht uns mit Rat und Tat zur Seite. Nebenher bietet er demjenigen, der einen „Wild Style“ Schriftzug entziffern kann fünf Euro. Keinem gelingt es und ganz nebenher gewinnen wir ein Gefühl dafür, was es bedeutet, wenn jemand nicht lesen kann. Für Analphabeten hat dies im Alltag jedoch viel drastischere Auswirkungen, als den Verzicht auf einen kleinen Wetteinsatz.
Text: Katrin Werner
Teaserbild: Pascal Busche, iCHANCE
Dieser Beitrag entstand in Zusammenarbeit mit iCHANCE.
Coole Sache!