Besondere Zeiten erfordern besondere Maßnahmen, deshalb konnte ich die WG leider nicht persönlich im bayrischen Kaufbeuren besuchen und habe mich zu einem gemeinsamen Videotelefonat mit Johann, Yannick und Moritz verabredet. Neben den WG-Bewohnern sind auch Simone von der Kulturwerkstatt Kaufbeuren, einer theaterpädagogischen Einrichtung des Stadtjugendrings, und Hannah von der Lebenshilfe bei unserem Gespräch dabei.
Ich bin neugierig, wie die WG denn überhaupt zustande gekommen ist. Simone erzählt mir, dass diese Idee vom Kinderund Jugendtheater der Kulturwerkstatt Kaufbeuren stammt: „Wir hatten schon immer den Gedanken, eine inklusive WG zu gründen.“ In einem großen, ehemaligen Sparkassengebäude sehen sie die idealen Räume für ihr Vorhaben. Unterstützung gibt es auch von der Lebenshilfe, die schon lange eng mit der Kulturwerkstatt zusammenarbeitet. Und auch die Sparkasse als Vermieter zeigt sich einverstanden; der Weg für die Gründung der inklusiven WG ist frei.
WG statt Wohnheim und Hotel Mama
Das Ganze ist mittlerweile schon vier Jahre her. Johann und Yannick wohnen seit Anfang an in der WG. Die beiden erzählen mir, dass sie zuvor im Wohnheim gelebt haben. „Aber die WG ist tausendmal besser“, meint Yannick. Hier hat er seine Freiheiten, die ihm persönlich sehr wichtig sind – ein großer Vorteil einer WG. Johann ergänzt, dass er sich vor allem viel Spaß vom gemeinsamen Zusammenleben in einer WG versprochen hat. Moritz ist das neueste WG-Mitglied und vor einem Jahr in die Wohngemeinschaft gezogen. Johann und Yannick kannte er da bereits aus der Kulturwerkstatt, wo er seinen Bundesfreiwilligendienst absolviert hat. Als in der WG ein Zimmer frei wurde, entschied sich Moritz, ein Teil der inklusiven WG zu werden und „coole Erfahrungen zu sammeln“. Ob seine Erwartungen erfüllt wurden? Moritz meint, dass das Wohnen in einer inklusiven WG ihm auf jeden Fall dabei geholfen hat, Vorurteile über Behinderte abzulegen und Berührungsängste abzubauen. Zur WG gehört außerdem Illia, der bei unserem digitalen Treffen leider nicht dabei sein kann. Er stammt aus der Ukraine und absolviert im Moment ein Praktikum bei der Lebenshilfe.
Ich frage mich, wie denn die Familien der WG-Bewohner das Wohnprojekt aufgenommen haben. Yannick erzählt, dass seine Mama begeistert von dieser Idee war. Schließlich möchte Yannick noch selbstständiger werden und im Leben möglichst allein klarkommen, wie er betont. Dafür ist die WG für ihn optimal. Moritz, der für die WG aus dem Elternhaus ausgezogen ist, macht außerdem deutlich, dass es für seine Familie kein Faktor gewesen sei, dass er in eine inklusive WG gezogen ist. „Für meine Mutter war es lediglich schwierig, dass sie ihren ersten Sohn gehen lassen musste“, lacht Moritz.
Eine Sache möchte Moritz noch aufklären: „Wir sind keine Betreuer für Johann und Yannick. Natürlich unterstützen wir die beiden, wenn sie unsere Hilfe benötigen, aber ambulant betreut werden Johann und Yannick von Hannah.“ Auch Simone betont, dass es sich „um eine stinknormale WG handelt, wie jede andere auch“. So gibt es beispielsweise einen Putzplan und eine Haushaltskasse für gemeinsam genutzte Dinge wie Gewürze. „So etwas wie einen WG-Chef gibt es bei uns nicht“, erzählt Moritz. „Wir teilen die Rollen ganz gut untereinander auf und unterstützen uns gegenseitig. Wenn es etwas zu besprechen gibt, dann treffen wir uns gemeinsam am Tisch und diskutieren zusammen.“ „Wir sind auf jeden Fall ein eingespieltes Team“, pflichtet ihm Johann bei.
Dafür sorgen auch gemeinsame Ausflüge und Unternehmungen, die die Mitbewohner noch enger zusammenbringen, wie zum Beispiel Fahrradtouren im Wald oder gemeinsames Frühstücken in der Kulturwerkstatt jeden Dienstag. Johann erzählt mir zudem, dass er gerne abends Tee für alle kocht. Außerdem erfahre ich von einem weiteren besonderen Ritual: Einmal im Jahr gibt es einen Ausflug mit allen, die jemals in der TetraPack-WG gewohnt haben. Auch wenn ein reger Wechsel stattfindet und die meisten nur ein bis zwei Jahre in der WG wohnen, bleiben alle weiterhin vernetzt und nutzen das jährliche Treffen, um gemeinsam Zeit zu verbringen.
Mit Podcast gegen die Langeweile
Natürlich bin ich auch neugierig, wie die WG die Corona-Krise erlebt hat. Gab es in dieser Zeit Besonderheiten? Inwiefern hat es das Zusammenleben beeinflusst? Hannah erzählt, dass sie Johann und Yannick nochmal von einer ganz anderen Seite kennengelernt hat. Und das, obwohl sie die beiden eigentlich schon seit Jahren kennt. „Letztendlich war die Zeit gar nicht so schlimm wie zuerst gedacht“, lacht sie. Das liegt vielleicht auch daran, dass allerlei Dinge zusammen gemacht wurden, zum Beispiel Fenster putzen, Ausflüge mit dem Fahrrad oder auch Haare färben. Von Johann erfahre ich außerdem, dass er Hannah sogar geschminkt und ihr die Nägel lackiert hat.
Du bist neugierig geworden und willst unbedingt ein Mitglied der TetraPack- WG werden? Dann melde dich am besten direkt bei der Kulturwerkstatt Kaufbeuren und schreibe eine E-Mail an kulturwerkstatt@kaufbeuren.de
Das spannendste Projekt in der Corona-Zeit ist allerdings der Tetra-Pack-Podcast, den die vier gemeinsam mit der Kulturwerkstatt und der Lebenshilfe gestartet haben. „Wir mussten natürlich auch Möglichkeiten finden, trotz allem in den Köpfen der Leute zu bleiben, solange das Theater unserer Kulturwerkstatt nicht möglich ist“, erzählt Simone. „Und natürlich war uns auch etwas langweilig“, ergänzt Hannah lachend. Während des Lockdowns reden die WG-Bewohner einmal in der Woche in ihrem Podcast über ganz verschiedene Themen wie das WG-Leben, Liebe oder Körperideale und erhalten dafür viele positive Rückmeldungen. Aktuell gibt es eine kleine Pause, in der ein neues Konzept ausgetüftelt werden soll. Ich bin auf jeden Fall gespannt, wie es mit dem TetraPack-Podcast weitergeht!
Neues WG-Mitglied gesucht
Abschließend möchte ich wissen, was sich die WG für die Zukunft wünscht. Johann muss bei dieser Frage nicht lange überlegen: „Mit allen Leuten gut auskommen, mutig sein und immer neue Ideen haben.“ Yannick möchte Neues lernen, weiter Erfahrungen sammeln, sich trauen und neue Sachen machen. Und Moritz? Er verlässt nach einem Jahr die TetraPack-WG und zieht für sein Studium nach Regensburg. Moritz hofft natürlich, eine gute Nachfolgerin bzw. einen guten Nachfolger für sein Zimmer zu finden, „jemand Neues mit neuen Impulsen und Interessen“. Simone bringt dabei auch den finanziellen Aspekt ins Spiel. Schließlich wird das Wohnprojekt von der Antonie-Zauner-Stiftung unterstützt und ist auf die finanzielle Hilfe angewiesen. Sie hofft daher, dass viele junge Menschen Interesse an der WG haben und einziehen wollen, damit die Wohngemeinschaft fortbestehen kann. Simone betont nochmals, dass es sich dabei nicht um eine Zweck-WG handelt, sondern um ein Zusammenleben, in dem Inklusion gelebt wird und ein gegenseitiges Interesse und Offenheit sehr wichtig sind.
Text von Lara-Sophie Radach, 23, die gerade erst selbst in ihre erste WG gezogen ist.
Teaserbild: Paula Kuchta