Je nachdem, durch welchen Informationsdschungel man sich zum Thema chinesisches Social Credit System schlägt, gelangt man zu unterschiedlichen Ergebnissen. Nicht selten wird die Parallele zu bekannten Werken aus der Science-Fiction-Szene gezogen (Grüße an alle George Orwell-, Big Brother- und Black Mirror-Fans). Nicht nur Wissenschaftler und Politiker, sondern auch die Presse spekuliert intensiv über ein solches Punktesystem der chinesischen Regierung. Von deren Seite kommen hingegen so gut wie keine offiziellen Informationen zu dem anstehenden Projekt.
Im Supermarkt, im Büro, in den eigenen vier Wänden
Das überspitzte (und frei erfundene) Beispiel am Anfang soll den grundlegenden Mechanismus des Social Credit Systems verdeutlichen: bestimmte Umgangsformen in der Öffentlichkeit und das individuelle Konsumverhalten, durch Kameras und Gesichtserkennung festgehalten und zugeordnet, beeinflussen den persönlichen Punktestand jedes Bürgers. Läuft man bei Rot über die Straße oder kauft Junkfood, zahlt die Miete nicht rechtzeitig oder äußert sich kritisch über die Regierung, führt dies zu Punkteverlust und einer Abstufung im digitalen Ranking. Dieses wirkt sich auf Privilegien aus: Geringere Kreditwürdigkeit, beschränkter Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen und Verkehrsmitteln oder soziale Ächtung durch die Aufnahme in sogenannte „Black Lists“ könnten die Folge sein. Der eigene Punktestand klettert hingegen nach oben, indem man sich regelkonform verhält, Überstunden am Arbeitsplatz ableistet oder sich ehrenamtlich in der Gemeinde engagiert. Auch der Kauf von Gegenständen, die mit einem geregelten und bürgerlichen Leben in Verbindung gebracht werden können (Windeln für das Baby, der supergesunde Avocadohummus für den Sonntagsbrunch), fließen positiv mit ein. Dem „Vorzeigebürger“ winken Belohnungen in Form von Rabatten in Bus und Bahn, ein gesicherter Schulplatz für seine Kinder, bis hin zu schnelleren Aufstiegschancen im Beruf.
Und natürlich hat ein hoher Punktestand – und spätestens jetzt sollten sich alle Social-Media-Nutzer an die eigene Nase fassen – den schönen Nebeneffekt, gesellschaftliche Anerkennung und Wertschätzung zu erfahren. Ist der Vergleich mit unserer „Like“- und „Herzchen“-Sammelsucht auf Instagram und Facebook zu weit hergeholt? Gefällt es uns nicht auch, unseren Healthy-Lifestyle zu inszenieren und dafür bei unseren Mitmenschen Pluspunkte zu sammeln?
Nicht nur die bessere Vernetzung staatlicher Institutionen, sondern auch die Kooperation mit privaten Unternehmen könnten wichtige Bausteine sein, um ein solches Kreditpunktesystem zu etablieren. Der Konzernriese Alibaba, das chinesische Pendant zu Amazon, hat bereits das Punktesystem Sesame Credit entwickelt, das das Kaufverhalten seiner Kunden auf den eigenen Webseiten (unter anderem Alipay, Taobao, alibaba.com) bewertet. Indem User viele der angebotenen Dienste nutzen, sammeln sie Punkte auf einem virtuellen Konto. Jedem Payback-Karten-Nutzer sollte dieser Prozess bekannt sein. Ein hoher Kontostand führt unter anderem zu Rabattangeboten oder einer höheren Kreditwürdigkeit bei dem Onlinebezahlsystem Ant Financial (Alipay). Vor allem das Bezahlen mit dem Handy durch Alipay ist in China sehr beliebt.
Vertrauen ist gut, Kontrolle ist – harmonischer?
Doch Halt! Bevor man (meine Person eingeschlossen) sich anmaßt, das ganze System durchschaut zu haben und ihm entweder den Utopie- oder Dystopie-Stempel aufsetzt, sollte man sich im Klaren darüber sein, dass es sich hier nur um eins der mehr als siebzig Pilotprojekte handelt, die seit 2014 in China getestet werden.
Dieses am häufigsten thematisierte Projekt wird in Rongcheng ausprobiert. In der Küstenstadt herrscht seit 2014 laut dem Wirtschaftsprofessor Zhang Zheng „eine hervorragende Ordnung. Das Verhalten der Bewohner, das medizinische und wirtschaftliche Umfeld – alles sehr gut. Wir ziehen daraus den Schluss, dass das Sozialkreditsystem gut für die Atmosphäre in Wirtschaft und Gesellschaft ist.“ Der Hochschulprofessor an der renommierten Peking Universität leitet die Forschungsstelle für das chinesische Sozialkreditsystem und sieht in dem Mechanismus die Chance, einen harmonischeren und vertrauenswürdigeren Umgang innerhalb der Bevölkerung zu generieren.
Wie das System in der deutlich größeren Hauptstadt des Landes umgesetzt werden soll, welche Indikatoren gemessen werden und wer die Daten wie verarbeitet, bleibt im Dunkeln. „Welche Informationen über die Bürger gesammelt werden dürfen, das muss die Politik entscheiden. […] Es kommt auf die Bedürfnisse der jeweiligen Städte und Bezirke an“, so Professor Zhang Zheng. Eine unbefriedigende Antwort.
Differenzen in der Datenschutz-Kultur
Leider konnte mir weder meine Tandempartnerin Sin aus Hongkong noch meine Chinesischlehrerin Li Li* „Informationen aus erster Hand“ geben. Persönlich kamen sie mit keinem der gestarteten Pilotprojekte in Kontakt. Allerdings stellte sich im Laufe unserer Gespräche relativ schnell der unterschiedliche Umgang mit privaten Daten in China und Deutschland heraus. „In manchen Situationen haben die Deutschen sehr strenge Regeln hinsichtlich der Privatsphäre. Wenn man eine E-Mail gleichzeitig an viele Leute schicken möchte, sollte man alle Adressaten in den BCC (blind carbon copy) stellen, um die anderen E-Mail- Adressen nicht ohne Einwilligung weiterzugeben. Bei Klausuren in der Universität darf man seine Matrikelnummer nicht direkt in der Anwesenheitsliste eintragen, sondern zuerst auf dem Prüfungsbogen“, zählt meine Lehrerin einige Beispiele auf. „Außerdem wollen die deutschen Eltern nicht, dass andere von ihren Kindern Fotos machen. Das sehen wir in China eigentlich ganz locker.“
Auch Sin bestätigt, dass hier in Deutschland der Datenschutz einen höheren Stellenwert genießt. Obwohl ihre Heimatstadt Hongkong durch ihren Status als Sonderverwaltungszone in vielen Aspekten von Kontinentalchina unabhängig ist, findet man auch dort Videokameras auf vielen öffentlichen Plätzen: „Die chinesische Bevölkerung hat sich längst daran gewöhnt, überwacht zu werden. Selbst in der Universität hängt in jedem Hörsaal ein CCTV (Closed Circuit Television). Obwohl die Videokameras per se nichts Schlechtes sind, versuche ich, die Überwachung zu vermeiden, indem ich mich zum Beispiel bewusst unter die Kamera, also in ihren toten Winkel, setze.“
Aber nicht nur bei der Überwachung der Bürger durch Bild- und Tonaufnahmen ist Sin misstrauisch. Auch wenn sie mit ihrer Schwester, die in Peking studiert, über Chatplattformen kommuniziert, vermeidet sie „problematische“ – nach meinem Verständnis politische – Äußerungen. Wenn sie sich hingegen mit ihren chinesischen Freunden über die Pläne der Regierung hinsichtlich einer erweiterten Überwachung unterhält, hat sie das Gefühl, dass diese das Thema eher auf die leichte Schulter nehmen. Der Staat dehne nur bestehende Systeme, wie zum Beispiel die Geschwindigkeitskontrollen im Verkehr, aus; wie so oft würden die westlichen Medien das nutzen, um China an den Pranger zu stellen.
Li Li kommentiert hierzu: „Es kann problematisch sein, dass man aufgrund falscher Handlungen in einem Bereich (wie z. B. im Straßenverkehr) keinen Zugang zu einem anderen Bereich erhält, der gar nichts mit dem ersten zu tun hat, wie die Benachteiligung bei der Wohnungssuche in manchen Gegenden. Alles in allem soll das System aber die Menschen motivieren, sich an soziale Regeln zu halten und nicht gegen Gesetze zu verstoßen.“ Zum Abschluss will ich von den beiden wissen: „Haltet ihr die landesweite Umsetzung eines Social Credit Systems wirklich für realistisch?“ Sin seufzt, bevor sie meine letzte Frage beantwortet: „Schon möglich. Wenn die chinesische Regierung etwas ankündigt, setzt sie es auch um.“
*Name auf Wunsch geändert
Text von Valentina Schott, 21, kann es kaum erwarten, ihr Auslandssemester in Hongkong zu verbringen.
Teaserbild: Paula Hohlfeld