Eigentlich wollte er noch schnell seine Serie fertig schauen. Auf dem Flatscreen in XXL, hoch aufgehängt über einem schicken Nierentisch aus den 60ern. Die Fernbedienung liegt vor ihm, direkt neben dem Controller für seine Spielekonsole. Er hat es sich gemütlich gemacht. Und schick. Porthos, sein Hund, schlummert unter seinen ausgestreckten Beinen. Zu einem schwarzen Hoodie trägt „der Boss“ eine karierte Anzughose. „WPR“ springt von der einen Adilette ins Auge, „TAL“ ziert als Schriftzug die andere. Er trägt sie mit Socken an den Füßen – und mit Stolz. Inmitten von Andy-Warhol-Kunstbänden, Retromöbeln und seinen selbst gemalten Bildern. „Das hier ist meine Liebe. Ich komme mit einem Grinsen rein, lege mich auf die Couch und freue mich einfach, hier zu sein“, sagt er. „Das wird mir fehlen.“
Ich wollte immer einen kleinen Laden haben – für meine Möbel und mich.
Der Laden von Tom und Juri zeichnet
sich durch viele liebevoll arrangierte
Details aus.
Es ist Samstag, das Dezember-Wochenende vor dem zweiten harten Lockdown 2020. In der Wuppertaler Nordstadt nimmt Tom, so heißt der Boss nämlich, diesen Ort ganz in sich auf. Sein eigener Laden mit 45 Quadratmetern Verkaufsfläche, einem kleinen Atelier und einer Möbelwerkstatt im Hinterhof ist in den letzten Monaten sein zweites Zuhause geworden. Erst Anfang September hatten der 27-Jährige und sein Kumpel Juri Jarkowski ihn hier in ihrer Heimatstadt Wuppertal eröffnet.
Zwischen Salzstreuern und Kunstwerken: das Pandemie-Projekt
LeMietz Art & Baron Fashion ist ziemlich hip. Der Shop ist eingerichtet wie ein Wohnzimmer im Indie-Look. Für diesen Style sorgen Toms selbst aufgearbeitete Möbel, die er auch zum Kauf anbietet. Und überhaupt: Alles, was hier steht, verkaufen Tom und Juri auch – von den spießigen Häkeluntersetzern auf dem Esstisch, über bunte Salzstreuer und Omas Silberbesteck, bis hin zu den hochmodernen Kunstwerken an der Wand. Juri verkauft im Geschäft zudem noch gebrauchte Mode.
Alle Leute sagen, dass wir mutig sind.
„Ich wollte immer einen kleinen Laden haben – für meine Möbel und mich“, erklärt Tom, der schon seit seiner Schulzeit leidenschaftlich an alten Tischen und Sesseln herumwerkelt. Als er vor drei Jahren anfing, gemeinsam mit Juri Bilder zu malen, hatte er schon längst nach einem eigenen Geschäft Ausschau gehalten. Die Freunde taten sich schließlich zusammen auf der Suche nach einem Ort für ihre ganz individuelle Vintage-Kunst-Galerie. In einem Altbau in der Friedrichstraße, wenige Meter von der Fußgängerzone entfernt, wurden sie fündig. Das war zu Beginn der Corona-Pandemie im vergangenen Jahr. Tom und Juri unterschrieben den Mietvertrag und im Spätsommer machten sie den Laden auf. „Alle Leute sagen, dass wir mutig sind“, erzählt Tom. Doch sein Herzensprojekt abzubrechen, sei für Tom nie infrage gekommen: „Ich habe so lange auf meinen eigenen Laden gewartet. Als ich endlich etwas gefunden hatte, wollte die Pandemie mir plötzlichen einen Strick daraus drehen. Aber darauf hatte ich keine Lust.“
Mitten im Laden zur Gitarre greifen und
jammen – für Tom ist sein Shop mehr
als nur eine Verkaufsfläche, er ist sein
kreativer Spielplatz.
Ein Store für die Community
Den Menschen Abwechslung bieten – das war das Ziel von Tom und Juri. Ihren Laden gestalteten sie – unter Einhaltung der Hygienevorschriften – zu einem richtigen Treffpunkt im Quartier: „Wir haben den Hinterhof Studierenden zum Lernen bereitgestellt und gesagt: Wenn euch die Decke auf den Kopf fällt, macht es euch bei LeMietz gemütlich, setzt euch mit dem Laptop hin und schreibt etwas.“ Das sei gut angekommen. „Viele Leute kamen her und wollten Teil dieser Community werden.“ Mal spielten alle zusammen Mario Cart auf der Konsole. Mal organisierten Tom und Juri Release-Partys. Tom ist nämlich nicht nur Künstler und Bastler: Er rappt auch noch, schreibt leidenschaftlich gern Songs und haut auf YouTube ab und zu eigene Tracks raus. Am Abend vor unserem Gespräch war der Verkaufsraum sogar noch eine Bühne für ein Unplugged- Konzert, erzählt er. Das Event veranstaltete Tom ohne Laden-Publikum, streamte es aber live auf Instagram.
Beweis gefällig? Tom greift spontan zur Akustik-Gitarre neben dem braun gepolsterten Retro-Sessel, setzt sich hin und legt los. Den Blick liebevoll auf sein Instrument geheftet, stimmt er für mich die Beatles an. Mit jedem Saitenanschlag geht er mehr und mehr in seiner selbst geschaffenen Umgebung auf. Als er dann aufsteht und den Fernseher einschaltet, wird er plötzlich ein ganz anderer Mensch. Jetzt ruft er seine Rap- Videos auf. Er wird zum Boss.
Luis V ist keine Mode, Luis V ist unser Viertel.
„Richtig gigantisch“, dieser LeMietz „Gyros-Teller ballern, mit den Homies ab ins Viertel. Erst mal einen hallern“, reimt Tom im Clip für seine zweite Single „Nero“ in die Kamera. Von welchem Viertel er singt? Natürlich vom Wuppertaler Kneipenviertel, gleich um die Ecke. „Ich liebe das Luisenviertel. Ich habe sogar eine eigene Kollektion dafür gemacht.“ Richtig verstanden. Eine Mode-Kollektion. Tom, das hat er sich langfristig vorgenommen, will passend zu jedem seiner Songs Kleidung bedrucken. Fair gehandelt und vegan stellt er sie her. Die Luis V-Reihe ist eine Liebeserklärung an seinen Kiez. „Luis V ist keine Mode, Luis V ist unser Viertel“, zitiert er stolz die eigenen Lyrics. Dann hält Tom ein schwarzes Polo- Shirt seiner Art is Live-Kollektion in die Höhe. Im Innenfutter der Brusttasche verbirgt sich eines seiner abstrakten bunten Bilder. Seine Erklärung: „Das ist meine Philosophie: Immer ein bisschen Kunst in der Tasche haben.“
… das sind Tom Berger und Juri Jarkowski. Gemeinsam haben sie im vergangenen Jahr trotz aller Pandemie-Umstände ihren Traum von einem eigenen Laden umgesetzt. Hinter Baron Fashion verbirgt sich dabei der Bekleidungsladen von Juri, in dem er Vintage- und Secondhand- Klamotten verkauft. Le Mietz ist der Künstlername seines Geschäftspartners Tom, der das Geschäft neben dem Verkauf seiner Vintage-Möbel auch als Atelier für seine Kunst und Musik nutzt.
Für Tom ist LeMietz Art & Baron Fashion Werkstatt und Bühne zugleich. Wuppertal, findet er, hat solch einen Laden gerade in der Pandemie dringend nötig: „Dieser Ort ist da, um sich auch künstlerisch zu connecten. Quasi als eine Anlaufstelle für kreative Menschen. Hier hast du eine Fusion von Dingen, die zusammen etwas richtig Gigantisches sind.“ Der Lockdown aber bremst auch Tom aus. Sein Geschäft muss erst einmal schließen. „Ich bin traurig darüber. Denn das ist schon geil, wenn du im Hinterhof stehst und einen neuen Song herausgebracht hast und alle Leute das feiern“, sagt er. Online-Konzerte wären zwar weiterhin möglich, „aber das ist nicht dasselbe. Ich bin gerne mit Leuten zusammen und erlebe was.“
Hier ist ein Aufschwung [...] und ich finde es schön, ein Teil davon zu sein.
Pause im Viertel Die Nordstadt, Toms und Juris Standort, ist das Wuppertaler Kult-Viertel. Hier erinnern sich die Menschen mit Sehnsucht an die Tanzikone Pina Bausch und das weltberühmte Ensemble in ihrer Nachbarschaft. Else Lasker-Schüler, die große Dichterin, als Jüdin vor dem Zweiten Weltkrieg vertrieben, ist am Rande dieser dunklen Straßenschluchten aufgewachsen. „Das Viertel, in dem wir hier sind, ist sehr herzlich und legt Wert auf Zusammenhalt und Kultur“, erzählt Tom. „Hier ist ein Aufschwung von jungen Leuten, die was erreichen wollen, und ich finde es schön, ein Teil davon zu sein. Ich selbst habe die schönsten Zeiten meines bisherigen Lebens hier in der Nordstadt erlebt.“
Vorübergehend zu schließen, bedeutet für Tom aber zum Glück nicht das Ende seines Traums: Er arbeitet in Teilzeit als Erzieher und ist so finanziell abgesichert. Seine Visionen verfolgt er weiter. Tom deutet durch das Schaufenster vor das Geschäft: „Das soll im neuen Jahr eine Fahrradstraße werden. Dann stellen wir Café-Tische vor die Tür. Mit den vielen Vereinen in der Nachbarschaft machen wir dann ein großes Straßenfest.“ Bis dahin malt, werkelt und rappt Tom, der Boss, weiter auf seinem Sofa, in seinem Laden, in seiner Stadt.
Text und Bildmaterial: Marlon Jungjohann