Nachgefragt

Was, wenn man kein
richtiges Zuhause hat?

Zuhause – für die meisten von uns ist das etwas, das einfach schon immer irgendwie da war. Das Kinderzimmer, das Elternhaus, das WG-Zimmer oder auch die erste eigene Bude – aber bei Max ist das anders. Max hat kein Zuhause. Max ist obdachlos. SPIESSER-Autorin Dana hat er von seinem Alltag auf der Straße und seinen Zukunftsplänen erzählt.

23. February 2021 - 13:06
SPIESSER-AutorIn Dana Marie.
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Dana Marie Offline
Beigetreten: 01.07.2019

Max, der eigentlich ganz anders heißt und lieber anonym bleiben will, ist ein netter, etwas zurückhaltender Typ, der mich anlächelt, als ich ihn zum Interview in der Kölner B.O.J.E. treffe, der „Beratung und Orientierung für Jugendliche und junge Erwachsene“. Die B.O.J.E. ist ein zum fahrenden Beratungszentrum umgebauter roter Linienbus, der hinter dem Kölner Hauptbahnhof steht. Für Max, 19 Jahre alt und seit zwei Jahren obdachlos, ist der Bus eine tägliche Anlaufstelle.

Über die B.O.J.E.
B.O.J.E. steht für „Beratung und Orientierung für Jugendliche und junge Erwachsene“ und ist ein Kontakt- und Beratungsangebot für Menschen bis zur Vollendung des 27. Lebensjahres, die sich im Umfeld des Kölner Bahnhofs aufhalten. Es wird von Auf Achse KJSH e. V. in Kooperation mit dem Gesundheitsamt der Stadt Köln betrieben und vom Amt für Soziales und Senioren der Stadt Köln unterstützt. Geöffnet ist der Bus von Montag bis Donnerstag von 14 bis 17 Uhr und am Freitag von 10 bis 13 Uhr. Individuelle Beratung findet dienstags und donnerstags von 11:30 bis 13 Uhr und Begleitung nach Vereinbarung statt. In der B.O.J.E. finden Bedürftige neben Beratung und Strom auch medizinische Hilfe (auch für Nichtversicherte). Die B.O.J.E. gibt's auch auf Facebook und online unter boje-koeln.de

Vielleicht ist auch Max etwas nervös wegen unseres geplanten Interviews – ich bin es jedefalls. Denn ich will einerseits alles über ihn wissen. Andererseits sind Fragen wie „Wie bist du obdachlos geworden?“ und „Warum ziehst du nicht zurück zu deiner Familie?“ sehr intime Fragen, die man wahrscheinlich nur mit ganzen Lebensgeschichten und Schicksalen beantworten kann.

Häufig fragt man seinen Interviewpartner beim Zusammentreffen, ob er eine gute Anreise hatte. Bei Max weiß ich gar nicht so genau, woher er vor unserem Gespräch kam – von „Zuhause“ war es schließlich nicht. Oder? „Ich kam von meinem Schlafplatz“, erzählt er. „Da steht mein Zelt, bis das Ordnungsamt wiederkommt und aufräumt.“ Wenn er sein Zelt dann nicht schnell abbaut und die Fläche zwischen Büschen räumt, schmeißt das Ordnungsamt sein Hab und Gut einfach weg. Das ist schlimm, denn auch wenn die Wände aus Plastik und nicht aus Beton bestehen, so bleiben sie am Ende doch seine eigenen vier Wände. „Das Zelt ist jetzt mein Zuhause. Zwar etwas anders, aber doch mein Zuhause.“ Dass er in einem Zelt lebt, sieht man Max übrigens überhaupt nicht an: Er achtet auf sich, er könnte der Nachbar von nebenan sein.

Wir sitzen neben dem roten Bus auf zu Hockern umgebauten Getränkekisten. Max erzählt mir vom Stress mit seiner Familie, der begann, als er erst sechs Jahre alt war. Er hat neun Geschwister, und obwohl er keine weiteren Details preisgibt, ist es nicht schwer, es sich vorzustellen: Da ist eine Großfamilie, Max ist als Sechsjähriger irgendwo in der Mitte; Menschen sind überfordert, es gibt viel Streit und Ärger, und irgendwann ist die Situation so schlimm, dass Max ins Kinderheim muss. Immer wieder kehrt er für kurze Zeit nach Hause zurück, muss dann aber wieder ins Heim, weil es mit der Familie einfach nicht funktioniert. 2016, mit 15 Jahren, geht er ohne Abschluss von der Förderschule. Mit 17 Jahren zieht er dann ins Zelt. Auf die Straße. Er will eigenständig sein, nicht mehr im Heim leben und weg von seiner Familie: „Sie mischen sich in mein Leben ein, wollen, dass ich Blödsinn baue. Dabei will ich eigentlich nur ein normales Leben führen.“

Max erzählt mir, dass er manchmal Flaschen sammelt, um einkaufen gehen zu können.

Sich mit 19 Jahren dem Aufbau eines ganz normalen Lebens zu widmen, ist schwer, wenn man über keinerlei Einkommen verfügt und sich jeden Tag den Kopf darüber zerbrechen muss, wie man heute überhaupt an etwas zu essen kommt. Max erzählt mir, dass er manchmal Flaschen sammelt, um einkaufen gehen zu können. Oder er bittet Passanten um Geld. „Damit hatte ich anfangs Probleme. Ich habe mich geschämt, danach zu fragen. Aber mittlerweile geht es. Wir kaufen immer nur für den Tag ein, damit uns das Essen nicht wegläuft, wenn die Sonne drauf scheint.“ Neben der Herausforderung der Essensbeschaffung nimmt Max sich aber trotzdem jeden Tag Zeit, um bei der B.O.J.E. vorbeizukommen. Von Bekannten hat er von dem Beratungsbus erfahren. Hier kann er sein Handy aufladen, etwas zu essen und trinken bekommen, ins WLAN gehen, um Instagram und Facebook zu nutzen, oder auch einfach mal eine Stunde ungestört im Bus schlafen. Dinge, die für Menschen mit einem Dach über dem Kopf nichts Besonderes sind, für Wohnungslose wie Max aber schon. Die B.O.J.E. wird täglich von 15 bis 25 Menschen besucht, erzählen mir die Mitarbeiterinnen, die für mich den Kontakt zu Max hergestellt haben. Das Angebot richtet sich an junge Menschen zwischen 18 und 27 Jahren. Der Bus wird betrieben von AUF ACHSE KJSH e. V. in Kooperation mit dem Gesundheitsamt der Stadt Köln. Neben den sichtbaren Dingen wie Essen und einer Steckdose zum Handyaufladen leistet das Team auch Hilfe bei Amtsgängen, beim Stellen von Anträgen, bietet den Hilfesuchenden Beratung und Begleitung.

Hilfe für Wohnungslose
Hilfsangebote für Wohnungslose bieten karitative Vereine und Verbände wie das Deutsche Rote Kreuz, die Diakonie, die Caritas oder die Arbeiterwohlfahrt. Erste Anlaufstellen, die weitervermitteln, können auch die örtlichen Bahnhofsmissionen sein. Unter www.woundwie.de können Bedürftige gezielt Hilfsangebote für ihre Stadt online finden. Unter www.sofahopper.de können junge Wohnungslose bis 27 Jahre online um Kontaktaufnahme bitten oder sogar live mit Beratern chatten.

Du willst selbst aktiv werden?
Wende dich an eine Hilfsstelle in deiner Nähe – neben Geldspenden sind auch Sachspenden wie Decken, Handschuhe, Jacken oder Schlafsäcke eine große Hilfe. Aber bitte informier dich unbedingt vorher, was genau gebraucht wird – vor allem Kleiderspenden werden nicht immer angenommen!

Kaum jemand schafft den Umzug von der Straße in eine eigene Wohnung über Nacht.

Dabei muss doch in Deutschland niemand obdachlos sein … oder? Diesen Spruch kennt jeder. Auch ich denke kurz: Dann soll Max doch einfach die nötigen Anträge stellen und sich eine Ausbildungsstelle suchen. Aber so einfach ist das eben nicht. Max sagt, er sei Langschläfer. Wer jetzt denkt: Er soll sich einen Wecker stellen!, vergisst dabei, wie nervig und ermüdend es sogar für nicht-obdachlose Menschen ist, beim Amt anzutanzen. Vorher alle Unterlagen zusammenzusuchen. Dokumente auszudrucken. Zur Behörde zu fahren. Es ist eine lästige Pflicht, selbst wenn man einen Drucker zuhause hat und sich das Bahnticket zum Termin ohne Probleme leisten kann. Und jetzt ist da Max, der seit seinem sechsten Lebensjahr nicht in einer richtigen Familie gelebt hat. Wo Mama und Papa ihm nicht vorgelebt haben, dass Amtsgänge notwendig sind, dass früh aufstehen für die meisten Menschen ganz normal ist, wie man ein strukturiertes Leben führt und wo die wichtigen Dokumente, die benötigt werden, in einem bestimmten Ordner abgehftet sind. Max muss diese ganzen Dinge irgendwie allein regeln, und das mit nur 19 Jahren. In der B.O.J.E. findet er die notwendige Unterstützung und immer ein offenes Ohr.

Im Gespräch mit den Mitarbeitern der B.O.J.E. wird klar, dass es mit „einem Amtsgang“ natürlich auch nicht getan ist. Kaum jemand schafft den Umzug von der Straße in eine eigene Wohnung über Nacht. Selbst, wenn der Wohnberechtigungsschein – der Nachweis, dass man eine mit öfentlichen Mitteln geförderte Wohnung beziehen darf – vorliegt: Die Wohnung kommt nicht von Zauberhand. Man muss sie suchen, sich bewerben – sich richtig dahinterklemmen. Ein Zwischenschritt, der zumindest weg von der Straße führt, kann eine betreute Wohngemeinschaft sein, zusammen mit anderen Wohnungslosen. Oder die Unterbringung in einem von der Stadt angemieteten Hotelzimmer, ebenfalls mit Wildfremden. Privatsphäre, Rücksichtnahme und ein harmonisches Zusammenleben gibt es in diesen Hotels oder Notunterkünften nicht. Für Max kommt eine solche Art der Unterbringung nicht in Frage, auch betreutes Wohnen nicht – denn diese Wohnform mit Einrichtungscharakter und vielen Regeln hat er als Kind und Jugendlicher zu lange mitgemacht. Ihm sind seine Freiheit und Autonomie wichtiger. Eine Sozialarbeiterin erzählt mir, dass diese Zwischenetappen für viele Menschen keine Optionen seien: zu wichtig seien Eigenständigkeit und das eigene Reich – ein Stück Privatsphäre, auch wenn sie nur von Zeltwänden gewahrt wird. Hartz IV sei meist der erste Schritt in Richtung einer Wohnung, danach seien Geduld, Motivation und harte Arbeit gefragt.

Max erzählt, dass es durch Corona mit den Amtsgängen noch schwieriger geworden sei, da man nun überall nur mit Termin reinkäme. Das fordert vom 19-Jährigen noch mehr Struktur und Organisation als vorher. Nicht das einzige Problem: „Wenn ich höre ‚Bleibt zu Hause!‘ – dann ist das nicht schön. Wie will man als Obdachloser zuhause bleiben? Es war anfangs komisch, und auch schwieriger, an Geld zu kommen, weil ich niemanden fragen konnte.“ Schließlich waren die Straßen teilweise wie leergefegt – an diese unheimlichen Wochen erinnert sich jeder. Eine positive Seite hatte die Corona-Krise aber für Max: Die Antragstellung für Hartz IV wurde vereinfacht, weshalb er nun regelmäßig Geld bekommt. Zum Glück kann er auch als wohnungsloser Mensch ein Konto eröffnen, dafür reicht nämlich eine Postfachadresse. Doch dadurch ergibt sich ein neues Problem: Die Bankkarte ist ein weiterer Wertgegenstand, den Max wie seinen Augapfel hüten muss. Denn Wertsachen einfach zuhause lassen und wegschließen, das geht nicht, wenn man in einem Zelt lebt. Schon zweimal wurden Max sein Handy und sein Portemonnaie aus dem Zelt geklaut.

Dann muss Max sich entscheiden: Gibt er heute Geld fürs Duschen aus – oder kauft er Essen?

Wenn es so einfach wäre, sagt Max, würde er von heute auf morgen in eine Wohnung ziehen. „Am meisten würde ich mich über eine schöne Dusche oder Badewanne freuen. Das ist nämlich auch nicht so einfach als Obdachloser. Es gibt zwar Anlaufstellen, wo man duschen kann, aber die man teilweise auch bezahlen muss.“ So eine Dusche kostet dann zwar Centbeträge, dennoch muss Max sich ab und an entscheiden: Gibt er heute Geld fürs Duschen aus – oder spart er? Max träumt außerdem von einem Ausbildungsplatz im Garten- und Landschaftsbau: „Ich wünsche mir schon ein normales Leben wieder. Vor allem, wenn es Winter wird und die Kälte einen kaputtmacht.“

Zum Schluss frage ich Max noch nach seinem Lebensmotto, und seine Antwort ist simpel und schön: „Einfach … das Leben genießen!“

Spendenverein: AUF ACHSE Treberhilfe e.V.
Ihr könnt den Förderverein von AUF ACHSE auch finanziell unterstützen (z.B. mit einem Schulprojekt), damit das ergänzende Beratungs- und Begleitungsangebot außerhalb der normalen Öffnungszeiten weiterhin stattfinden kann. Alle Infos zum Verein und Spendenmöglichkeiten gibt's auf www.auf-achse-koeln.de

Text von Dana Weise, 29, stellt beruflich Fragen und schreibt aus den Antworten spannende Geschichten über interessante Menschen.

Fotos von Jakub Kaliszewski, Werbefotograf, Fotodesigner und Teilzeithedonist aus Köln.

Teaser-Bild: Paula Kuchta

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