Meinung

Inklusion per Smartphone?

Home Studying im WG-Zimmer, per Livestream Veranstaltungen besuchen, gemeinsam Mittagessen via Zoom-Call. Spätestens seit Beginn der Corona-Pandemie sind alle Menschen täglich auf digitale Tools angewiesen, um räumliche Barrieren zu überwinden. Aber wie nutzen jene Menschen digitale Technologien, die aufgrund von körperlichen oder gesundheitlichen Beeinträchtigungen vor Barrieren im Alltag stehen? Kann Digitalisierung die Inklusion weiterbringen? Autorin Hannah hat das mal recherchiert. 

04. May 2022 - 13:03
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hannahreads Offline
Beigetreten: 09.02.2016

Nach meiner Auffassung bedeutet Inklusion, dass jede Person am gesellschaftlichen Leben teilhaben kann – ganz ohne jede Voraussetzung. In der gesellschaftlichen Debatte bezieht sich der Begriff Inklusion in einem engeren Sinne meist auf Personen mit körperlichen Behinderungen wie Menschen mit Seh-, Hör-, oder Gehbeeinträchtigungen. Aber auch Menschen mit seelischen oder geistigen Sinnesbeeinträchtigungen wie Lernschwierigkeiten oder Depressionen lassen sich in einem weiteren Sinn darunter fassen.
Obwohl in Deutschland laut der privaten Förderorganisation die Aktion Mensch jede achte Person eine offiziell bei Behörden angegebene Behinderung hat, sind wir aktuell weit von einer inklusiven Gesellschaft entfernt. Dabei ist Inklusion, egal ob auf dem Papier oder dem digitalen Screen, ein Grundrecht, welches auch in Artikel 3 des Grundgesetzes festgehalten ist. Seit 1994 steht dort geschrieben: 
Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“ Die Aufnahme dieses Satzes war damals ein riesiger Erfolg der Gleichstellungsbewegung behinderter Menschen. Für mich ist er aus heutiger Sicht völlig selbstverständlich.
Weitere rechtliche Grundlagen sind die in Deutschland seit 2009 ratifizierte UN-Behindertenrechtskonvetion sowie das Allgemeine Gleichstellungsgesetz. Dieses verbietet, Menschen mit Behinderung zu benachteiligen. Doch wie sieht das im digitalen Raum aus? Dafür gibt es bei uns das Barrierefreiheitsgesetz. Dieses bezieht sich auf digitale Anwendungen und soll Hürden beim Zugang zu Informationen und zu Kommunikation abbauen. Die Neuregelung setzt eine EU-Richtlinie um und gilt ab 2025. Damit sollen Menschen mit Einschränkungen alltägliche Dienstleistungen wie E-Book Lesegeräte barrierefrei nutzen können. Kritiker werfen dem Gesetz vor, eine Minimallösung zu bieten, da nur Angebote am heimischen Computer mitgedacht wurden.

Woran es bei der Umsetzung der Inklusion zu fehlen scheint, ist neben finanziellen Mitteln ganz offensichtlich ein gesellschaftliches und politisches Bewusstsein für das Thema und seine Tragweite. Können digitale Hilfsmittel die Lösung sein? Ideen gibt es viele: Fingerreader, die sehbeeinträchtigten Personen Texte vorlesen. Rollstühle, die über Sensorik gesteuert werden können. Smartphone-Apps wie Seeing AI, die die visuelle Welt hörbar machen. Apps wie MetaTalk, die Personen, die nicht sprechen können, beim Kommunizieren mithilfe von Symbolen helfen. Auf den ersten Blick scheinen sich nur Vorteile durch die digitalen Tools zu ergeben. Die moderne Technik unterstützt schließlich Nutzende in allen Lebensbereichen in ihrer Autonomie, erleichtert ihre Kommunikation, fördert ihre Fähigkeiten und bringt gleichzeitig Menschen mit und ohne Behinderungen näher zusammen. Aber ist es wirklich so einfach?

Ist das Internet barrierefrei?

Digitale Inklusion bedeutet laut der Bundeszentrale für politische Bildung, dass Personen
mit Behinderungen eine selbstbestimmte Nutzung von digitalen Angeboten ermöglicht wird. Es geht also darum, Menschen durch digitale Medien zu inkludieren, zum Beispiel mithilfe von Sprachassistenten im Schulunterricht. Aber auch um die Inklusion in die digitale Gesellschaft, die seit der Corona-Pandemie noch stärker Offline- und Online-Leben zugleich ist. Hierzu gehört unter anderem der barrierefreie, inklusive Zugang zu öffentlicher Kommunikation. Denn gerade das Internet hat den Raum und die technischen Möglichkeiten, Inhalte vielfältig für unterschiedliche Zielgruppen aufzubereiten – bspw. Webseiten in einfacher Sprache anzubieten oder Fotos und Videos zu untertiteln. Wenn ich aber mal auf derartige Aspekte achte, sehe ich da noch einiges an Nachholbedarf.

Denn während staatliche Stellen zu (digitaler) Barrierefreiheit verpflichtet sind, fehlt es an verbindlichen Vorgaben für die Privatwirtschaft. Der Sozialwissenschaftler Bastian Pelka hat in seinem Vortrag Digitalisierung und Teilhabe“ im Sommer 2021 bei der Veranstaltung Digitale Teilhabe für Menschen mit schweren Behinderungen. Die praktische Umsetzung an der Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart erklärt, wie wichtig genau solche Vorgaben wären. Aus seiner Sicht sind Smartphones und Tablets auch dank sozialer Netzwerke nämlich so was wie Teilhabemaschinen, die auch für Menschen mit Behinderung wichtig sind. Durch inklusive Angebote könnten beispielsweise Menschen mit einer Erkrankung, die sie aus dem öffentlichen Raum verbannt, weiterhin an gesellschaftlichen Diskursen online teilhaben. 
Auch so tolle Angebote wie die Website nachrichtenleicht.de 
des Deutschlandfunks machen gesellschaftliche und politische Inhalte für alle Menschen zugänglich. Auch, wenn politische Regelungen und ein gesellschaftliches Bewusstsein oftmals noch fehlen, helfe online häufig die Crowd, erklärte Pelka. So wurde von einem gemeinnützigen Verein beispielsweise gemeinsam mit seiner Community Hurraki das Online-Mitmachwörterbuch für einfache Sprache entwickelt.

Gesellschaftliche Teilhabe per App

Zwei zentrale Bereiche, in denen es gerade viel technikbasierte Innovation für Inklusion gibt, sind der Bildungsbereich und die Arbeitswelt. Digitale Angebote bieten rein technisch gesehen ein großes Potenzial für inklusives Lernen und Arbeiten. Jedoch ist der Anteil an Apps für ältere Schülerinnen und Schüler noch ausbaubar. Insgesamt gibt es deutlich weniger inklusive Lern-Apps als Lern-Apps generell. Gerade im Bildungsbereich sind inklusive Apps sehr wichtig und hilfreich, ersetzen aber in keinem Fall ein generelles Umdenken. Digitale Tools könnte man bspw. auf Konzepte wie das Universal Design for Learning hin überprüfen, welches der us-amerikanische Architekt Ronald Mace 1985 entwickelte. Es unterscheidet nicht zwischen Menschen mit und ohne Behinderung. Inklusive digitale Bildungsangebote gelten laut dem Konzept dann als universell designt, wenn sie von allen Lernenden gleichermaßen genutzt werden können. Deutschland kann von dem Vorreiter USA definitiv viel lernen, wenn es darum geht, digitale Barrieren abzubauen.
Im Bereich der Arbeitswelt fanden Forscher des Karlsruher Instituts für Technologie in einer Studie heraus, dass es zwar hilfreiche Technik zur Inklusion in die Arbeitswelt gibt – es aber an Wissen darüber bei den Unternehmen fehlt. Im Endeffekt stellen leider nur 46 Prozent aller Unternehmen überhaupt Menschen mit Behinderung ein, wie das Institut der deutschen Wissenschaft herausfand. Auch hier braucht es neben dem technischen Fortschritt auch das Wissen darüber.

Digitalisierung und Inklusion sollten immer zusammen gedacht werden.

Technik eilt mentalem Fortschritt voraus

Digitale Tools scheinen Menschen mit Beeinträchtigungen oftmals mehr Teilhabe zu ermöglichen. Aber wem bitte hilft moderne Technik, wenn sie keiner kennt und dadurch niemand nutzt? Kritiker meinen zudem, dass das wahre Problem durch diese individualisierten Technikhilfen oft verschleiert wird. Hinzu kommt, dass die Gadgets oftmals sehr teuer sind und dadurch neue finanzielle Hürden aufgebaut werden. Zudem wird die Verantwortung für eine gelungene Teilhabe durch die Tools ja wieder an die Betroffenen anstatt an ihr Umfeld delegiert. Indem also ein stufensteigender Rollstuhl teuer verkauft wird, wird von der Person im Rollstuhl gefordert, sich anzupassen und zu investieren, nicht von dem Ort selbst. Das ist dann eben keine Inklusion, sondern Integration. Es braucht keine sinnlosen Technikgadgets, sondern Rechte. 
Ein weiterer Kritikpunkt ist die fehlende Inklusivität von digitalen Angeboten generell. Ich selbst habe keine Einschränkungen, alle Apps sind für mich nutzbar, aber für andere Menschen ist das eben anders. Ihre Belange werden jedoch bei der App-Entwicklung oft nicht mitgedacht. Kein Wunder: In den Ausbildungen von Software-Entwicklern, Ingenieuren oder Medienexperten fehlt es schlicht und einfach an Inhalten zu dem Thema Barrierefreiheit.
Ganz ehrlich: Eine wahre Innovation wäre es doch, wenn unsere digitale Infrastruktur von vornherein inklusiv gebaut werden würde – und wir sie nicht umbauen oder nach und nach einreißen müssten, weil wir feststellen, dass sie nicht für jeden Menschen nutzbar ist. Es hängt nicht von Apps, sondern den entwickelnden Menschen dahinter ab, ob die Digitalisierung für mehr Inklusion sorgt. Dennoch denke ich, dass jede App, die Menschen dabei hilft, ihr natürliches Recht, an der Gesellschaft teilzuhaben wahrzunehmen, prinzipiell gut ist. Digitalisierung und Inklusion sollten immer zusammen gedacht werden. Die Verantwortung dafür sollten aber nicht nur privat wirtschaftliche Unternehmen tragen. Denn Inklusion beginnt im Kopf – und mit einem Mentalitätswandel hin zu einer inklusiven Gesellschaft für alle Menschen.

 

Text von Hannah Jäger, möchte in der Zukunft noch viel mehr darauf achten, barrierenfrei zu posten.

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