Nichts als Warten
Der Brennpunkt auf den griechischen Inseln hat sich mittlerweile verschoben. Das Drama ist heute ein anderes, als vor dem EU-Türkei-Deal. Es geht nicht mehr primär um Leben und Tod. „Die Menschen sind nicht am verhungern oder verdursten, sie besitzen meist genug Klamotten, um nicht jeden Tag das selbe zu tragen. Viele von ihnen haben ein Dach über dem Kopf. Das Problem ist heute die psychische Belastung der Menschen“, erklärt Fabian Bracher von swisscross.help. „Die Flüchtlinge haben in ihrer Vergangenheit Dinge erlebt, die sie wohl niemals komplett aufarbeiten können.“ Viele haben alles verloren, was ihnen je etwas bedeutet hat. Hoffnungsvoll haben sie es unter großen Mühen bis nach Europa geschafft, nur um hier neuen Hürden gegenüberzustehen. „Das Einzige, was wir vom Asylbüro hören, ist immer wieder das gleiche Wort: Wartet. Wir können das nicht mehr ertragen. Wir können nicht mehr warten.“, klagen die Hungerstreikenden in Moria zu Beginn ihres Protestes. Das Warten und die ungewisse Zukunft. Es sind Hürden, die den stärksten und mutigsten Mann brechen können, da sie die Menschen kurz nach einem unglaublichen Kraftakt, der Flucht, zu vollständiger Untätigkeit zwingen.
Niemand kann den Flüchtlingen sagen wie lange sie auf dieser Insel, in diesem Camp ausharren müssen. Niemand kann ihnen sagen, ob sie zurückgeschickt werden, ob alles um sonst war, oder ob sie in Europa geduldet werden. Niemand kann ihnen einen Zeitpunkt nennen, wann das alles hier vorbei ist. Es ist eine psychische Zerreißprobe. „Wie soll man optimistisch sein, wenn es nichts gibt, auf das man sich freuen kann? Wie soll man seine Zukunft planen, wenn die Zukunft völlig ungewiss ist?“, frägt Javid, wenn er nach seinen Zukunftsplänen, nach seinen Träumen gefragt wird. Nichts auf dieser Insel ist beständig. „Das hier ist Griechenland. Alles ist möglich, alles kann passieren. Meistens bleibt aber alles wie es ist. In meinem Leben passiert eigentlich nie etwas“, sagt Javid.
Ein Raum in einem der besetzten Häuser, in denen Flüchtlinge wohnen, die es in Moria nicht aushalten. Die Häuser werden nach und nach geräumt und die Bewohner meist direkt abgeschoben.
Kein normales Leben möglich
Diese Ungewissheit. Es gibt nichts, an dem man sich festhalten kann. Der beste Freund kann morgen abgeschoben werden. Der Volunteer, mit dem man am einen Tag seine Geschichte und seine Ängste teilt, reist am nächsten Tag wieder ab. Am Ende ist jeder alleine, mit seinen Gedanken, seiner Vergangenheit, seinen Sorgen.
„Die meisten der Flüchtlinge hier tragen nach außen hin eine Maske“, sagt Amir, der sich Hoffnungen macht, bald die Insel verlassen zu können. Es wirkt, als würde er schon anfangen, sich gedanklich von den anderen Flüchtlingen, die auf Lesbos festsitzen, zu distanzieren. „Sie versuchen, sich normal zu verhalten, normale Gespräche zu führen, alltäglichen Tätigkeiten, wie Eis essen, nachzugehen. Aber die Realität ist nun mal, dass wir hier kein normales Leben führen.“ Die Menschen wollen arbeiten, irgend etwas tun. Sie sind es leid, immer an den gleichen Orten in der Innenstadt Mytilinis abzuhängen. Sie sind es leid, als Tagesunternehmung den Besuch eines Cafes zu haben, in dem sie häufig noch von den Besitzern schief angeschaut werden, aus Angst, dass sie die wenigen Touristen durch ihre Anwesenheit fern halten.
Zerreißprobe zwischen Anpassung und eigener Kultur
Lesbos vereint auf kleinstem Raum unzählige, komplexe Konflikte und Probleme.
Positiv gesehen ist die Insel aber auch ein Ort des Lernens. Die Geflüchteten versuchen hier, so viel wie möglich über die europäische Kultur zu lernen. Nehmen an Benimm-Kursen teil, versuchen sich in Griechisch. Gleichzeitig blühen sie buchstäblich auf, wenn sich die Helfer die Zeit nehmen, um sich ihrer Kultur anzunehmen, Fragen zu stellen, Interesse zu zeigen.
Auf einer anderen Ebene stellen die kulturellen Differenzen die Flüchtlinge aber vor einen großen Interessenkonflikt. Zum einen möchten sie sich integrieren, sind bereit sich anzupassen, möchten dazulernen. Auf der anderen Seite ist ihre Kultur meist alles, was ihnen von ihrer Heimat geblieben ist. Sie ist das letzte Bisschen, an dem sie sich festklammern können, das ihnen ein Gefühl der Geborgenheit gibt. Europa kann nicht erwarten, dass sich diese Menschen nahtlos in seine Kultur einfügen werden und ihre Bräuche, ihren Glauben, ihre Sitten auf dem Weg nach Griechenland über Bord werfen. Wenn man die Flüchtlinge fragt, was ihr größter Traum ist, was sie machen würden, wenn alles möglich wäre, antworten fast alle das Gleiche. Sie möchten zurück in die Heimat, zu der Zeit, bevor der Krieg, die Hungersnot, die gewalttätigen Auseinandersetzungen alles veränderte. Es ist ein emotionaler Spagat, den sie machen müssen, wenn sie sowohl sich selbst, ihrer Geschichte und ihrer Familie, als auch dem Land, in welchem sie Schutz suchen und den Menschen, die dort leben, gerecht werden wollen.
Liebevoller Umgang miteinander trotz der schwierigen Situation
Und trotz dieser extremen psychischen Belastung, die auf den Flüchtlingen hier auf Lesbos liegt, ist es immer wieder erstaunlich, wie sensibel sie sind. Den Helfern, die auf die Insel kommen wird im Vorhinein geraten, besonders vorsichtig mit den Flüchtlingen umzugehen, darauf zu achten, sie nicht zu verletzen, oder zu enttäuschen. Tatsächlich fällt einem häufig im persönlichen Kontakt zu ihnen auf, wie sehr sie sich die Dinge zu Herzen nehmen, die man zu ihnen sagt. Über kleine Neckereien wird dann oft stundenlang nachgedacht. Und sie sind häufig gute Beobachter, gehen auf Freiwillige zu und fragen, warum es ihnen nicht gut geht. Da stellt sich so mancher die Frage, wer hier eigentlich wem helfen wollte.
Auch untereinander gehen sie oft sehr liebevoll miteinander um. Viele der jungen Männer sind hier ganz alleine und suchen in Freundschaften Ersatz für ihre Familie, zu der sie ausschließlich über das Telefon Kontakt aufnehmen können. Viele der Helfer aus Europa, die nach Lesbos kommen, erwarten emotional kalte, abgebrühte Menschen, die nichts und niemanden mehr an sich heranlassen. Meist ist genau das Gegenteil der Fall. Die meisten der Männer schämen sich nicht, wenn sie anfangen zu weinen, während sie ihre Geschichte erzählen. „Auch schlechte Nachrichten aus der Heimat, etwa ein Bombenanschlag mit vielen Toten, bringen bei vielen Tränen zum Vorschein“, erzählt Javid.
Lifevest graveyard (Friedhof der Schwimmwesten) im Norden der Insel.
Eine sich derzeit verschlechternde Situation
Die Situation spitzt sich derzeit weiter zu. Die Zahl der ankommenden Boote steigt seit dem es wärmer wird, wieder an. So kamen beispielsweise in der Nacht vom 18. auf den 19. August allein auf Lesbos 126 Menschen, verteilt auf drei Boote an. Allein in den ersten drei Juniwochen erreichten 758 Menschen die Insel. Etwa ein Drittel davon sind Kinder. Im Oktober 2017 sind wieder über 5000 Menschen in Moria untergebracht. Der nahende Winter und die kalten Temperaturen machen vielen Sorgen und Angst.
Gleichzeitig macht die EU-Kommission seit Monaten Druck, dass zu viele Menschen als „besonders schutzbedürftig“ eingestuft werden und damit die nötige Sonderbehandlung erhalten. Seit Mai müssen deshalb auch die Flüchtlinge, die mehr als alle anderen auf Hilfe und Schutz angewiesen sind, auf der Insel bleiben, anstatt wie zuvor direkt aufs Festland geschickt zu werden.
Ärzte ohne Grenzen warnt, dass der Kurs der EU-Kommission schwerwiegende Folgen hat. Weniger als dreißig Prozent der von ihnen behandelten Menschen, die Folter erlebt haben, wurden von den Behörden als „besonders verletzlich“ eingestuft. Statistiken zeigen, dass die Anzahl der Flüchtlinge mit ernsthaften, psychischen Erkrankungen immer weiter steigt.
Ein Psychiater für die ganze Insel
Auf den griechischen Inseln wird nun vor allem psychologische Hilfe benötigt. Im Camp Moria gibt es keinen einzigen Psychiater. Im Krankenhaus von Mytilini gibt es einen einzigen, der allerdings nicht nur für Flüchtlinge, sondern auch für einheimische Patienten verantwortlich ist. „Bei uns zu Hause, in der Schweiz oder Deutschland, würden Menschen mit ähnlichen Erfahrungen sofort eine umfangreiche psychologische Versorgung erhalten. Hier ist genau das Gegenteil der Fall. Die Flüchtlinge werden in dieser Hinsicht meist allein gelassen“, beklagt Fabian Bracher.
„Ärzte ohne Grenzen“ wird bei diesem Thema in einem Bericht vom 14. April sehr deutlich. Unter anderem steht darin, dass „das Eu-Türkei-Abkommen(...) verheerende Auswirkungen auf (...) die Gesundheit der Schutzsuchenden [hat]“. Von den Patienten, die Ärzte ohne Grenzen auf Lesbos in ihrem psychologischen Programm behandelt, leiden zweieinhalb mal so viele an Angstsymptomen und Depressionen, wie noch vor einem Jahr. Vor dem Deal.
Psychologische Unterstützung und Beschleunigung des Asylverfahrens
Europa sollte auch ein Interesse daran haben, dass psychisch halbwegs gesunde Menschen, den ihnen zustehenden Schutz erhalten. Sie werden es leichter haben, sich zu integrieren, sind leistungsfähiger und motivierter. Nur, weil diese Menschen sich nicht mehr in unmittelbarer Lebensgefahr befinden, heißt das nicht, dass es ihnen automatisch gut geht.
Genauso dringend, wie psychologische Unterstützung ist die Beschleunigung des Asylverfahrens nötig. Mehr Sachbearbeiter, die schnellere Entscheidungen treffen können, damit die Flüchtlinge auf den griechischen Inseln möglichst schnell dieser psychischen Folter, dem Gefühlschaos aus Verzweiflung, Ungewissheit, Traurigkeit und Schmerz, entkommen können.
Keine Besserung in Sicht
Der Hungerstreik in Moria wurde nach acht Tagen beendet. Ohne jeglichen Erfolg. Grund dafür war wohl auch das Minimum an Aufmerksamkeit, dass den Protestierenden von europäischer Seite entgegen kam. Weil die Flüchtlingsströme mittlerweile nicht mehr bis vor die eigene Haustür kommen, drohen viele Europäer das Problem zu verdrängen und zu vergessen. Sollte das passieren, wird das Leid der geflüchteten Menschen in absehbarer Zeit nicht gemindert werden. Bei all der Ungewissheit, die auf den griechischen Inseln herrscht, lässt sich dies wohl mit Sicherheit sagen.
Feuer im Camp Moria im September 2016. Foto: Fridoon Joinda
* die Namen der geflüchteten Menschen wurden in dem Text geändert (Milad, Mike, Javid und Amir heißen in Wirklichkeit anders)
Text und Foto: Johanna Gottschling