Die Männer sind kaum ansprechbar. Sie sind zu geschwächt. In graue Decken gewickelt liegen sie unter einem Dach aus weißen Plastikplanen mitten im Camp, direkt vor dem Büro des „Greek Asylum Service“. Sie wollten nicht mehr untätig warten. Lieber sterben.
Typische Symptome eines Hungerstreiks: Müdigkeit und Frieren.
Foto: Fridoon Joinda
Zwölf syrische Flüchtlinge waren Ende April im Flüchtlingscamp Moria auf der griechischen Insel Lesbos in den Hungerstreik getreten. An das Gerüst der provisorischen, aus Plastikplanen gebauten Überdachung hatten die Protestierenden Plakate geklebt. „Wir fordern unsere Rechte. Freiheit! Ansonsten ziehen wir es vor, zu sterben“ lautete die Botschaft an Europa. Die Forderungen waren in sechs verschiedenen Sprachen formuliert. Unter anderem in Farsi, Arabisch und Französisch, die drei meistverbreiteten Sprachen im Camp. Woher kommen diese Menschen? Was genau wollen sie? Und warum findet ihr Schicksal kaum mehr öffentliches Interesse?
Die meisten der Streikenden sind syrische Kurden, die von der Türkei aus mit dem Boot nach Griechenland gekommen waren. Sie warteten damals seit teilweise über sieben Monaten auf die Bearbeitung ihrer Asylanträge. Manche von ihnen wurden bereits abgelehnt und müssten eigentlich in die für Kurden unsichere Türkei zurück. Sie fordern die nötigen Papiere, um weiter nach Athen reisen zu können. Endlich weg von dieser Insel, diesem Urlaubsort, der für tausende Flüchtlinge zur Sackgasse geworden ist. Zum Ort des endlosen Wartens.
Heillose Überforderung vor dem EU-Türkei-Deal
Lesbos. Die Insel in der Ägäis stand vor zwei Jahren im Mittelpunkt der Flüchtlingskrise. Die drittgrößte Insel Griechenlands hebt sich durch die kurze Distanz zur Türkei hervor. Nur etwa zehn Kilometer beträgt die Entfernung. 2015 kamen hier jeden Tag durchschnittlich 1200 Menschen in instabilen Schlauchbooten an. Laut dem Flüchtlingswerk der Vereinten Nationen (UNHCR =United Nations High Comissioner for Refugees) erreichten damals 57 Prozent der über Griechenland flüchtenden Menschen als erstes die Insel Lesbos. Alle waren damals heillos überfordert. Die Küstenwache, die Behörden, die NGOs (Nicht-Regierungs-Organisationen), die Bewohner der Insel und die Flüchtlinge sowieso.
Seitdem hat sich viel geändert. Grund dafür ist vor allem der EU-Türkei-Deal vom 18. März 2016. Fast jeder Flüchtling in Griechenland kennt dieses Datum. Es steht für einen schwarzen Tag. Mit ihm ist es den Flüchtlingen nicht mehr erlaubt, die Insel Richtung Festland, Richtung Europa zu verlassen.
Ein Ferienort wird zum Gefängnis
„Für manch einen mag diese Insel ein Ferienort sein, aber wenn man dazu gezwungen ist zu bleiben, wird der schönste Ort zum Gefängnis“, erklärt der 23-jährige Javid. Er selbst sitzt seit über fünfzehn Monaten in Griechenland fest und hasst es mittlerweile, hier zu sein. Seitdem die Schweizer Organisation swisscross.help auf der Insel ein Community Center aufbaut, kommt er täglich dort hin und gibt Flüchtlingskindern Englisch-Unterricht. Das Unterrichten ist ein willkommener Zeitvertreib. Ein bisschen Abwechslung und Kreativität in dem sonst sehr grauen Leben der Menschen. Javid sieht die Lage auf Lesbos abgeklärt und hoffnungslos. „Ich bin hier Flüchtling, ich habe hier nichts zu sagen, keine Erwartungen zu stellen. Wir haben keine andere Wahl, als geduldig und folgsam zu warten. Wir müssen versuchen, unauffällig zu sein, keinen Ärger zu machen und sind dazu gezwungen, Ungerechtigkeiten zu akzeptieren.“
Einer der vielen Zäune, die Moria umgeben. Foto: Laura Heinig
Meterhoher Stacheldrahtzaun um das schreckenerregende Camp
Die meisten der Flüchtlinge auf Lesbos sind in dem Erstauffanglager in Moria untergebracht. Die Bedingungen dort sind teilweise katastrophal. Das Camp liegt mit dem Auto etwa zwanzig Minuten von der Hafenstadt Mytilini entfernt und ist dafür ausgelegt etwa 3000 Menschen zu beherbergen. Zwischenzeitlich lebten dort letztes Jahr fast 5000 Flüchtlinge. Von außen sieht es aus, wie ein Gefängnis. Und so wird es auch von vielen genannt, „The Prison“. Stellenweise umgrenzen das Camp fünf Mauern und Stacheldrahtzäune. Wenn man es zum ersten mal sieht, überkommt einen ein bedrückendes Gefühl. Warum müssen Menschen, die in Europa Schutz suchen, an einem Ort leben, der aussieht, als würde große Gefahr von ihnen ausgehen? Die Flüchtlinge sind in Moria entweder in Zelten untergebracht, oder in Containern, in denen sie bisweilen zu fünfzehnt ein Zimmer teilen. Immer wieder fällt das Wasser für mehrere Tage aus. Das erklärt, warum man in den Olivenhainen, die das Camp umgeben, plötzlich auf Gruppen von Afrikanern trifft, die mithilfe eines Schlauches, der von einem Bach abzweigt, sich selbst und ihre Klamotten waschen.
Der Papst bezeichnet das Lager als Konzentrationslager
Moria macht etwas mit seinen Bewohnern. Es verändert sie. Flüchtlinge, die sich außerhalb des Camps völlig normal verhalten, gesellig und heiter sind, werden dort beobachtet, wie sie schreien, sich selbst verletzen. „Es ist schwer zu beschreiben, wie ich mich in Moria fühle“, erzählt Javid. „Ich kann dort einfach nicht leben. Sobald ich hinter den Mauern bin, bekomme ich keine Luft mehr.“ Papst Franziskus besuchte den sogenannten Hotspot auf Lesbos im April letzten Jahres. Ein Jahr später beschreibt er die Unterkünfte auf den griechischen Inseln mit drastischen Worten: „Viele Flüchtlingslager sind Konzentrationslager“. Das Internationale Auschwitz-Komitee bezeichnet den Vergleich als legitim.
Alle Beteiligten der Flüchtlingskrise an einem Ort
Häufig kommt es zu Streit und gewalttätigen Konfrontationen unter den Migranten im Lager. Erst im Juli gab es heftige Auseinandersetzungen zwischen Camp-Bewohnern und der Polizei, bei denen Steine geworfen und Wohn-Container angezündet wurden.
Aber auch die Stimmung außerhalb des Camps, unter der Inselbevölkerung, ist angespannt. Die einen sammeln Flüchtlinge auf der Straße und in Community Centers ein, um sie bei sich zu Hause duschen zu lassen. Viele engagieren sich ehrenamtlich, helfen mit, wenn Boote an der Küste ankommen oder lassen Flüchtlinge umsonst in ihrem Restaurant essen, wie Nikos und Katherina, die Besitzer des Lokals „Nikos Kitchen“, das nicht weit von Moria entfernt ist.
Auf der anderen Seite fühlen sich viele überrumpelt und benachteiligt. Die Flüchtlinge erhalten in Moria 90 Euro Taschengeld pro Monat, was viele Griechen, deren Rente zum Teil nur 80 Euro monatlich beträgt, als Affront empfinden. Alle paar Wochen finden in Mytilini Demonstrationen statt, auf denen Aktivisten sich mit den Forderungen der Flüchtlinge solidarisieren. Regelmäßig kommt es dabei zu Auseinandersetzungen zwischen Einheimischen und Demonstranten. „Geht doch alle zurück nach Hause und hört auf, diese Menschen auch noch zu unterstützen! Ich bin diejenige, die das Problem hat! Ihr kommt und haut nach ein par Wochen wieder ab. Ich lebe hier!“, schreit eine Griechin die europäischen Volunteers und Aktivisten bei einer solchen Demonstration Mitte April an.
Autorin Johanna malt ein Plakat für die Facebook-
Aktion #iamhuman #mylifehasvalue im
Zusammenhang mit dem Hungerstreik.
Helfer statt Touristen
Die Zahl der europäischen Touristen ist von 2014 bis 2016 um 60 Prozent gesunken. Schuld daran ist vor allem das negative Image der Insel. Die regelmäßigen Berichte von Menschenrechtsverletzungen, überfüllten Camps und tausenden von verzweifelten Schutzsuchenden ziehen eher Helfer, als Urlauber an.
Es gibt zahlreiche Hilfsorganisationen, die sich auf der Insel engagieren. Eine davon ist die Schweizer Organisation swisscross.help, die 2015 von Michael und Rahel Räber gegründet wurde. Sie ist dabei ein Community Center aufzubauen. Schon jetzt ist es ein Treffpunkt für Volunteers, vorwiegend aus der Schweiz, Deutschland und Griechenland, und Flüchtlinge, die größtenteils in Moria wohnen. Hier werden täglich Projekte ausgetüftelt, Englisch-Unterricht gegeben, Mittagessen für 500 Leute gekocht.
Unabhängig von der Herkunft, arbeiten hier alle zusammen. Die Flüchtlinge kommen gerne ins Community Center, vor allem weil sie dort eine Aufgabe haben. „Das Einzige, was wir Freiwillige im Moment machen können, ist den Leuten eine Möglichkeit zu geben, dem Camp für ein par Stunden zu entfliehen. Wir können ihnen einen Ort geben, an dem sie beschäftigt sind, an dem sie etwas tun können“, erklärt Fabian Bracher, ein junger Schweizer, der das Projekt leitet.
„Die Menschen sind seit Monaten, manche seit Jahren auf fremde Hilfe angewiesen. Sie würden sich gerne selber und gegenseitig helfen, aber das System hier ermöglicht ihnen das kaum. Wir versuchen mit dem Community Center einen Raum zu schaffen, in dem sie ein wenig Normalität finden. Sie arbeiten hier und bekommen im Gegenzug Kaffee, Zigaretten, Kleidung. So haben sie ein Anrecht auf diese Dinge und müssen sie sich nicht erbetteln.“ Den Flüchtlingen auf Lesbos ist jegliches Gefühl der Selbstwirksamkeit abhanden gekommen. Ihre Zukunft liegt in der Hand der überforderten Sachbearbeiter der europäischen und griechischen Behörden. Insbesondere Letztere klagen immer wieder über Personalmangel, seit dem der EU-Türkei-Deal die Verantwortung stark verlagert hat und nun primär die Randstaaten der Europäischen Union die Erstversorgung, die Registrierung und das Bearbeiten der Asylanträge übernehmen.