Total durch den Wind zerrt mich Natti in die Mädchentoilette unserer Realschule. Normalerweise sollte heute alles etwas ruhiger zugehen, da wir unseren Abschluss feiern, doch irgendwas ist mit ihr los. Sie sieht wunderhübsch aus, aber ihre Hände zitterten leicht. Ihre Eltern habe ich auch noch nicht gesichtet und deshalb vermute ich, dass das irgendetwas mit ihnen zu tun haben muss.
Zurück in den Kosovo?
Auf der Mädchentoilette erzählt mir Natti, dass sie zurück in den Kosovo müsse: „Nach der Abschlussfeier wollen meine Eltern mich für einen Monat mitnehmen." Einen Monat? Das kommt mir schon irgendwie komisch vor. In meinem Kopf spielen immer wieder die gleichen Szenen: Ihr Vater, den ich immer ein bisschen gefährlich aussehend finde, und meine beste Freundin alleine im Kosovo. Nach dem Gespräch hab ich ein mulmiges Gefühl im Magen, vor allem, weil ich merke, dass Natti beunruhigt ist - und ich einfach nichts dagegen tun kann.
Natti meldet sich - aber Chantal weiß
nicht, was sie davon halten soll.
Foto: Fenja Eisenhauer/Jugendfotos
Nachdem sich Natti lange Zeit in den Sommerferien nicht gemeldet hatte, machte ich mir Sorgen und schrieb ihr eine Mail. Als Antwort bekam ich:
Ein paar Wochen später...
Natti hat sich lange nicht mehr gemeldet. Nachdem ich mir schon den ganzen Tag alle möglichen Unglücke im Kopf zusammengereimt habe, setze ich mich direkt nach der Schule an den PC, um ihr eine Mail zuschreiben. Am nächsten Tag blinkt schon die neue Nachricht in meinem Postfach auf:
„Hallo du,
mir geht es gut. Hier im Kosovo ist die Internetverbindung leider nicht gut genug, um täglich online zu gehen. Ich komme bald wieder, leider nur für einen Monat. Danach wollen meine Eltern mit uns ein Jahr im Kosovo leben und so lange hätte ich hier die Möglichkeit, zur Schule zu gehen. Ich vermisse euch alle!!!"
Wie kann Natti so einen „Umzug" einfach hinnehmen? So kenne ich sie gar nicht? Vor allem kann man doch nicht einfach alle Freunde und die gewohnte Umgebung zurücklassen! Diese Gedanken schießen mir immer wieder durch denk Kopf.
Zurück in Deutschland
Durch eine Klassenkameradin, die auch sehr gut mit Natti befreundet ist, habe ich schließlich erfahren, dass sie doch wieder zurück in Deutschland und an der Handelsschule, die direkt an meine Schule angrenzt, als Schülerin gemeldet ist. Mittlerweile bin ich total verwirrt, weil ich nicht weiß, wieso sie sich in der ganzen Zeit nie gemeldet oder ein Lebenszeichen von sich gegeben hat.
Ein paar Wochen nach den Sommerferien gehe ich gemütlich in die Pausenhalle meiner Schule. Plötzlich zieht mich ein bekanntes Gesicht zur Seite: Nattis Schwester steht vor mir. Ich bin erschrocken und verwirrt zugleich, doch bevor ich überhaupt etwas fragen kann, fängt sie wild an zu fragen: „Wo ist meine Schwester? Du weißt ganz genau, wo sie steckt!" Erstaunt beteuere ich ihr, dass ich nicht weiß, wo Natti sei, obwohl es mich nach der langen Zeit wirklich mal interessieren würde. Nach einem kurzen Gespräch nimmt sie mich an meinem Arm mit auf den Schulhof, auf dem der Vater der beiden Mädchen wartet: Komplett schwarz gekleidet und mit einer Mütze auf dem Kopf, deren Schatten sein Gesicht etwas verdeckt. Es ist schon ein komisches Gefühl, vor ihm zu stehen. Er droht mir, dass ich sagen solle, wo Natti sei, sonst passiere mir etwas Schreckliches.
Nach dieser unangenehmen Begegnung will ich natürlich auch rausfinden, wo Natti ist. Nach dieser Aktion weiß ich genau, dass da irgendetwas im Busch ist und tippe sofort Nattis alte Handynummer ein. Das Klingeln kommt mir wie eine Ewigkeit vor. Nach dem gefühlt tausendsten Versuch geht sie endlich ran: „Mir geht es gut, ich bin in Köln. Versuch nicht, mich zu suchen!" Total genervt von dieser mageren Antwort will ich sie noch mehr fragen, doch sie legt einfach auf. Na super! Ich mache mir totale Sorgen. In diesem Moment geht mir das erste Mal die Möglichkeit durch den Kopf, dass vielleicht mehr als eine Meinungsverschiedenheit in ihrer Familie dahinter stecken könnte – vielleicht eine Zwangsheirat?
Chantal macht sich Sorgen um ihre
beste Freundin - und erreicht sie auf
dem Handy. Foto: Alexander Franke
In Deutschland ist das kein seltener Fall: Jährlich werden tausende Frauen auch hier zwangsverheiratet, zeigte im letzten Jahr eine Studie von Familienministerien Kristina Schröder (CDU). Über ein Drittel der Mädchen sind unter 17. Alleine in Deutschland wurden 2008 über 3443 Zwangsehen erfasst. Die Dunkelziffer liege vermutlich noch höher. Betroffen seien vor allem Menschen mit Migrationshintergrund im Alter zwischen 18 und 21 Jahren, viele davon mit deutscher Staatsangehörigkeit.
Ich kann mir aber gar nicht vorstellen, wieso Netti mir das nicht anvertrauen sollte. Wird sie vielleicht von ihrem Vater bedroht? Wir sind eigentlich beste Freundinnen, ich bin doch der letzte Mensch, der ihren Eltern erzählen würde, wo sie ist - denn offensichtlich steckt sie ja in einer Notsituation. Noch am selben Tag wird mein Name durch die Lautsprecher unserer Schule ausgerufen. Die Polizei. Eine der Lehrerinnen hat mein Gespräch mit Nattis Vater auf dem Schulhof mitbekommen und will das Hausverbot für ihn erreichen. Das gelingt ihr auch, doch jetzt stellt sich immer noch die Frage: Wo ist Natti?
Erneut versuche ich, sie zu erreichen. Mit Erfolg. Am Telefon kann ich von ihr erfahren, wo sie sich zur Zeit aufhält. Vor Freunde will ich am liebsten in die Luft springen, doch dafür ist jetzt keine Zeit. Mit dem Polizeiauto fahren wir zu dem Freund, bei dem sie sich versteckt.
Die Entscheidung – Ein Leben ohne Eltern
In ein paar Sätzen erfahre ich alles über ihre schrecklichen letzten Wochen: Sie sollte tatsächlich zwangsverheiratet werden – und hat sich darum für ein Leben ohne ihre Eltern entschieden. Sie hat sich mitten in der Nacht aus dem Haus geschlichen und ist mit dem Taxi weggefahren. Damit ist sie aus einer Welt ausgebrochen, in der Zwangsheirat und die höhere Position des Mannes dazu führen, dass Frauen geschlagen werden – so, wie es auch bei ihr war.
Als sie mir das erzählt, läuft mir ein Schauer über den Rücken. Wie stark meine beste Freundin doch ist! Aber leider beruhigt sich die Situation nicht so schnell. Nachdem sie sich von der Schule abgemeldet und mit Hilfe der Polizeit eine Anzeige gegen ihren Vater gestellt hat, geht es erst richtig los. Sie wohnt zwar extra immer abwechselnd bei verschiedenen Freunden, dennoch kann sie sich nicht gut genug verstecken.
Nattis Vater und die Eisenstange
Klingt ein bisschen wie Hollywood:
Durch Zufall hält ein Taxi an, die
Freunde fliehen mit Netti vor ihrem
Vater. Foto: Felicitas Arnold
Als sie mit drei Freunden abends an einer Bushaltestelle steht, kommt ein silberner Mercedes angefahren und hält an. Nattis Vater, der eine Eisenstange dabei hat, steigt zusammen mit ihrem Onkel aus dem Wagen und packt sie einfach in den Kofferraum. Nattis Freunde wollen das natürlich nicht einfach zulassen: Sie schlagen den Vater mit einer Glasflasche zu Boden und ziehen Natti aus dem Kofferaum. Ein anderer Freund nimmt sich den Onkel vor. Mit Erfolg! Sie können Natti befreien und durch Zufall hält ein Taxi an, mit dem sie schnell fliehen können. Der Vater schießt vom Boden aus mit einer Schreckschusspistole hinterher, deren Patronen am Tag danach von der Polizei gefunden werden Wie kann man nur so verrückt sein? Durch diesen Vorfall gibt es endlich richtige Beweise und Natti bekommt den vollen Schutz der Polizei.
Endlich Freiheit
Noch unter Schock ruft sie mich am nächsten Tag an und erzählt mir, dass sie von der Polizei in ein Frauenhaus weit weg gebracht wird. Sie könne nicht mehr in der nahen Umgebung bleiben. „Ich bekomme eine neue Identität und kann erst mal keinen Kontakt mehr mit euch allen halten. Aber irgendwann in ein paar Jahren komme ich dich besuchen und alles wird wieder gut!" Etwas niedergeschlagen von der für sie schönen, aber auch schrecklichen Nachricht, quatschen wir noch etwas weiter, bevor sie aufbrechen muss. Nachdem sie aufgelegt hat, laufen mir Tränen über mein Gesicht.
Natti bekommt jetzt Hilfe vom Jugendamt, das ihr Leben nun mit Geld und Betreuung unterstützt. Sie muss nun versuchen, ein Leben ohne Familie und Freunde auf die Reihe zu bekommen. Ihr Ziel ist es, einen guten Abschluss zu erreichen und eine Ausbildung als Kauffrau zu machen. Sie hat den drastischen, aber einzigen Ausweg aus einer verkorksten Welt genommen, um ein normales Leben zu haben, in dem sie ihre Träume verwirklichen kann. Ohne Gewalt und Zwang.
Text: Chantal Aust
Teaserfoto: Claudia Helmert/jugendfotos.de